Halle ohne Kirchengericht

Die Erfahrungen mit dem kürzlich abgeschafften Kirchengericht für Mitteldeutschland zeigen: Effektiven Rechtsschutz gibt es nur vor staatlichen Gerichten.
25.11.2024

Das Kirchengericht in Halle wurde zum 30. Juni 2024 abgeschafft. Wenn eine Mitarbeitervertretung (MAV) zum Beispiel aus Sonneberg in Thüringen künftig ihre Rechte geltend machen will, muss sie dafür zum Kirchengericht der Evangelischen Kirche nach Hannover fahren – und hin und zurück insgesamt acht Stunden Fahrzeit einplanen. Begründet wird die Abschaffung des Gerichts an der Saale damit, dass nicht mehr genug Jurist*innen zur Besetzung der Kammern zur Verfügung stünden. Aus Sicht des Gesamtausschusses der Mitarbeitervertretungen in der Diakonie Mitteldeutschland (GAMAV) zeigt der Fall, »dass die grundsätzliche Kritik an einer Sondergerichtsbarkeit für kollektivrechtliche Streitigkeiten mehr als berechtigt ist«.

 

Die Mitarbeitervertretungen berichten, dass es mit der kircheneigenen Gerichtsbarkeit in Halle seit geraumer Zeit gravierende Probleme gibt. So sei dessen Geschäftsstelle in den vergangenen zwei Jahren fast nicht zu erreichen gewesen. »Teilweise war es nicht möglich, Faxe zu schicken, um Fristen einzuhalten. Effektiver Rechtsschutz in Eilverfahren war damit kaum möglich«, heißt es in ihrer Stellungnahme. Dies betreffe vor allem die Mitarbeitervertretungen, da in der Regel sie es sind, die Rechtsverletzungen vors Kirchengericht bringen. Erreichen sie dort Entscheidungen zugunsten der Beschäftigten, seien diese »nicht vollstreckbar und damit auch nicht durchsetzbar«.

Richterliche Unabhängigkeit?

Noch gravierender ist für die betrieblichen Interessenvertretungen, dass die Unabhängigkeit der Richter*innen am Kirchengericht in Halle nicht gewährleistet gewesen sei. Der Vorsitzende der zweiten Kammer – die für vier von fünf Regionen zuständig ist – »vertritt neben dieser Funktion als Vorsitzender des Kirchengerichts als Fachanwalt für Arbeitsrecht diakonische Arbeitgeber*innen auch vor dem Kirchengericht in Halle, also vor dem Gericht, dem er gleichzeitig als Vorsitzender Richter angehört«. Es sei nur schwer begreiflich, wie dies unter der Wahrung rechtsstaatlicher Erwägungen möglich sein könne. »Eine derartige Situation ist grundsätzlich geeignet, das Vertrauen in Justiz und Rechtsstaat nachhaltig zu erschüttern und erhebliche Zweifel an einem fairen Verfahren aufkommen zu lassen.« Die grundlegende Zweifel an der Unvoreingenommenheit seien darin begründet, »dass ein wirtschaftliches und ideelles Eigeninteresse an einer arbeitsgeberseitig orientierten Rechtsprechung des Kirchengerichts nie ausgeschlossen werden könne«.

Wegen seiner fehlenden Beteiligung bei der Neubesetzung der Kammern 2023 strengte der Gesamtausschuss ein kirchengerichtliches Verfahren an, um eine Wiederholung des Besetzungsverfahrens zu erreichen. Der Vorsitzende Richter sollte nun über die Rechtmäßigkeit seiner eigenen Einsetzung entscheiden. Die Mitarbeitervertretungen stellten einen Befangenheitsantrag. Über diesen entscheiden sollte ein weiterer Richter, der aus ihrer Sicht aber ebenfalls befangen war, »weil auch seine Einsetzung als Vertreter mit dem Verfahren angegriffen wird. Daher erfolgte auch hier ein Ablehnungsgesuch.« Die Folge: »Damit kann das Verfahren nicht geführt werden, weil alle eingesetzten Richter*innen, soweit sie noch zur Verfügung stehen sollten, befangen sind. Dieses Verfahrenshindernis kann nicht aufgelöst werden.«

Diese Situation vermutet der Gesamtausschuss als einen Grund für die Auflösung des Hallenser Kirchengerichts – neben dem Mangel an Jurist*innen, der auch in der geringen Aufwandsentschädigung zu suchen sei. Mit Letzterer sei es »in der Sache schon angelegt, dass sich wenig Jurist*innen für dieses Amt finden lassen. Eben dies begünstigt die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Missstände.«

Grundlegende Mängel bleiben

Die Entscheidung, das Kirchengericht in Halle abzuschaffen, sei zwar richtig, so die Mitarbeitervertretungen in ihrer Stellungnahme. Doch die Verlagerung ans EKD-Gericht in Hannover beseitige die grundlegenden Mängel nicht, sondern verschiebe diese lediglich. »Verfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, effektiver Rechtsschutz und eine ordnungsgemäß funktionierende Rechtspflege, die auch mit Zwang durchsetzbar ist, kann nur der Staat, nicht zuletzt wegen des ausschließlich ihm zustehenden Gewaltmonopols gewährleisten«, so das Fazit der GAMAV. Die Lösung könne daher nur sein, die kollektivrechtlichen Streitigkeiten auch in kirchlichen Einrichtungen »auf die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit zu übertragen, um zu ermöglichen, im Rahmen rechtsstaatlich geführter Verfahren effektiv Rechte durchzusetzen«. 

 

Übrigens:

Bei Streitigkeiten aus dem individuellen Arbeitsverhältnis können auch kirchlich Beschäftigte vor staatliche Arbeitsgerichte ziehen. ver.di-Mitglieder werden in solchen Fällen von der Gewerkschaft beraten und unterstützt.

 

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