Am 9. Juni wird das Europäische Parlament neu gewählt. Nicht nur die bedrohliche Rechtsentwicklung ist ein Grund für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, zur Wahl zu gehen. Kriege, Klimakrise, Inflation, soziale Ungerechtigkeit prägen und bestimmen den Alltag vieler Menschen in Europa. Festgefügte Gewissheiten geraten ins Wanken. Klar ist: Vieles kann nur auf europäischer Ebene geklärt und gelöst werden. Dafür ist es allerdings erforderlich, demokratische Regeln im Sinne der über 400 Millionen Menschen in Europa weiterzuentwickeln. Übrigens: Bei der Europawahl gilt das Wahlrecht bereits ab dem 16. Lebensjahr.
Das Europäische Parlament beschließt in Abstimmung mit den nationalen Regierungen Richtlinien, die dann in nationale Gesetze übertragen werden müssen. Das Europäische Parlament hat wichtige Regelungen – bei Arbeitszeiten, Arbeits- und Gesundheitsschutz und Datenschutz – zugunsten der Beschäftigten beeinflusst. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinien in nationales Recht tut sich Deutschland allerdings regelmäßig schwer.
Die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte ist: Europa ist in vielen Bereichen hilfreich – auch und gerade für Beschäftigte der Kirchen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird von den höchsten deutschen Gerichten bei grundsätzlichen Rechtsstreitigkeiten immer wieder als letzte Instanz angerufen. Gerade die beiden christlichen Kirchen »fremdeln« allerdings mit Entscheidungen des EuGH, wenn es um ihre angeblich eigenen Befugnisse geht. Sie wollen sich nicht reinreden lassen, was bei mehreren EuGH-Entscheidungen der vergangenen Jahre und ihrem Umgang mit diesen deutlich wird (siehe Beitrag von Professor Dr. Hartmut Kreß, Seiten 8 und 9).
Der Europäische Gerichtshof hat den Kirchen klare Grenzen aufgezeigt. Hintergrund ist auch hier eine Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie (RL2000/78), die im Wesentlichen besagt, dass die Kirchen nur dann eine besondere Loyalität von ihren Beschäftigten verlangen können, wenn diese für die berufliche Tätigkeit eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Ob dies im Einzelfall so ist, wird immer öfter vor staatlichen Gerichten und eben auch vom EuGH verhandelt.
Hintergrund ist der § 9 im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), der den Kirchen eine Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung ermöglicht, ohne dafür Bedingungen zu nennen – ein Freibrief, bei Kirchenaustritt oder sogenanntem kirchenfeindlichem Verhalten Kündigungen auszusprechen. Diese Regelung verstößt gegen europäisches Recht, sie muss geändert werden. Es ist gut, dass die europäische Rechtsprechung das kirchliche Nebenarbeitsrecht in Deutschland immer wieder einhegt. Umso skandalöser ist, dass die Kirchenspitzen die europäische Rechtsprechung nur zögerlich bis ablehnend zur Kenntnis nehmen.
Zwei weitere Beispiele zeigen die Bedeutung der Europäischen Union, auch für Beschäftige in kirchlichen Betriebe und Dienststellen. Erstens: Der Europäische Gerichtshof hat kürzlich bekräftigt, dass Arbeitgeber die tatsächlichen Arbeitszeiten minutengenau dokumentieren müssen. Die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) angekündigte Umsetzung dieser Entscheidung in das deutsche Arbeitszeitgesetz ist immer noch nicht erfolgt. Gleichwohl gilt diese Richtlinie bereits – auch für Beschäftigte kirchlicher Betriebe. Und zweitens: In der EU-Mindestlohnrichtlinie ist festgelegt, dass mindestens 80 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge erfasst sein sollen. Wo dies nicht der Fall ist – wie in Deutschland – muss die Regierung bis November 2024 einen Plan vorlegen, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Man darf gespannt sein, wie die Umsetzung für die 1,8 Millionen Beschäftigten von Kirchen, Diakonie und Caritas erfolgen soll. Von ihnen ist bislang nur ein verhältnismäßig kleiner Teil über einen Tarifvertrag mit ver.di abgesichert.
Berno Schuckart-Witsch
»Der Gewinnmaximierung auf Kosten der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden – auch, ja, gerade auf europäischer Ebene. Das heißt, dass Tarifverträge flächendeckend anzuwenden sind und dass Pflegeinrichtungen am Gemeinwohl orientiert betrieben werden müssen. Pflege darf nirgendwo Profitinteressen unterworfen werden!«