»Streiks sind zulässig«

Interview mit Wolfgang Däubler, emeritierter Professor für deutsches und europäisches Arbeitsrecht an der Uni Bremen und Autor einer Vielzahl arbeitsrechtlicher Standardwerke.
06.09.2024

Die Diakonie ist 2012 vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) damit gescheitert, ein grundsätzliches Streikverbot für kirchlich Beschäftigte zu erwirken. Nun versucht sie anlässlich der starken Tarifbewegung im Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar, den dort Beschäftigten ihr grundgesetzlich verbrieftes Streikrecht und damit die Möglichkeit abzusprechen, ihre Arbeitsbedingungen selbst zu gestalten. Darüber sprechen wir mit dem renommierte Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, der sich kürzlich in einem Gutachten mit dem Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen beschäftigt hat.

 

Die Beschäftigten des kirchlichen Sophien- und Hufeland-Klinikums Weimar fordern einen Tarifvertrag. Dass ver.di dafür zu Warnstreiks aufruft, versuchen evangelische Kirche, Diakonie und Klinikleitung mit juristischen Mitteln zu verhindern. Ihr Argument: Das kirchliche Arbeitsrecht schließe Arbeitskämpfe aus. Ganz grundsätzlich: Sind Streiks in kirchlichen Einrichtungen tatsächlich ausgeschlossen?

Es gibt eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahre 2012, die besagt: Wenn es sich um eine kirchliche Einrichtung handelt, kann die Tarifautonomie einschließlich des Streikrechts unter ganz bestimmten Voraussetzungen ersetzt werden durch ein paritätisches Verhandlungs- und Schlichtungsverfahren. Das setzt aber erstens voraus, dass es sich wirklich um eine kirchliche Einrichtung handelt und dass das Verfahren, zweitens, tatsächlich paritätisch ist. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, bleibt es beim juristischen Normalfall: Streiks sind weiter zulässig, die Ausnahmen greifen nicht.

 
Professor Wolfgang Däubler

Das Sophien- und Hufeland-Klinikum gehört zur Diakonie und befindet sich in kirchlicher Trägerschaft. Ist es da nicht eindeutig, dass es sich um eine kirchliche Einrichtung handelt?

Eine Einrichtung hat nicht schon dann kirchlichen Charakter, wenn sie der Kirche gehört. Vielmehr muss sie im Alltag kirchliche Grundsätze realisieren. Das BAG hat zum Beispiel einer Gesellschaft, die ausschließlich diakonische Einrichtungen in wirtschaftlichen und juristischen Fragen unterstützte, die Eigenschaft als kirchliche Einrichtung abgesprochen, obwohl sie zu 100 Prozent der Kirche gehörte – weil die von ihr erbrachten Tätigkeiten nicht vom kirchlichen Auftrag geprägt seien. Gleiches gilt für Leiharbeitsunternehmen oder Einrichtungen, die sehr viele Leiharbeiter einsetzen.

Laut Bundesverfassungsgericht geht der kirchliche Charakter auch dann verloren, wenn es in einer Einrichtung darum geht, Gewinne zu erzielen. Der kirchliche Charakter bestehe nämlich darin, dass  sich die Einrichtung nach dem Grundsatz der Nächstenliebe um den Menschen kümmert – dass man Zeit für ihn hat, über seine Sorgen redet, mit ihm in den Gottesdienst geht und vieles mehr. Klar ist: Wenn man vorwiegend Gewinne machen will, ist das nicht mehr gewährleistet.

 

Das Sophien- und Hufeland-Klinikum soll von 2014 bis 2022 insgesamt 34 Millionen Euro Gewinn erwirtschaftet haben. Anders als in privaten Unternehmen werden diese allerdings nicht an Anteilseigner ausgeschüttet.

Es geht nicht nur um Gewinne. Der kirchliche Charakter geht auch dann verloren, wenn der Kostendruck so hoch ist, dass die Beschäftigten für eine praktizierte Nächstenliebe keine Zeit mehr haben. Bei den konfessionellen ist es genauso wie bei den weltlichen Krankenhäusern: Der Rationalisierungsdruck und der Sparzwang sind enorm, viele sind sogar von Insolvenz bedroht. Sie sind gezwungen, ihren Aufwand in jeder Hinsicht zu minimieren und zugleich die Zahl der lukrativen Fälle, etwa bestimmter Operationen, im Rahmen des irgend Möglichen zu erhöhen. In dieser Situation kann niemand mehr behaupten, die tätige Nächstenliebe stünde  im Vordergrund. Das ist am Klinikum Weimar ganz sicher nicht anders als bei sonstigen Krankenhäusern. Schon aus diesem Grund – weil es vom Charakter her keine kirchliche Einrichtung ist – können Streiks dort meiner Auffassung nach nicht untersagt sein.

 

Und was ist mit den Bedingungen, die das BAG 2012 dafür gestellt hat, dass der kirchliche Sonderweg als Begründung für den Ausschluss von Streiks herhalten kann?

Voraussetzung ist laut BAG, dass die Kirche ein Verfahren schafft, das ein Äquivalent zur Tarifautonomie darstellt. Außerdem müssen die Ergebnisse dieses Verfahrens genauso verbindlich sein wie eine Einigung in Tarifverhandlungen. Das gibt es in der evangelischen Kirche ebenso wenig wie in der katholischen. Die sogenannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen bestehen zwar zu gleichen Teilen aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern, die Gewerkschaften haben aber nur ganz wenige Sitze. Das ist wichtig, denn eine gewerkschaftliche Verhandlungsdelegation hat eine ganz andere Unabhängigkeit als Personen, die selbst bei der Kirche angestellt sind. Schon das macht die Verhandlungen nicht gleichgewichtig.

 

Es reicht also nicht, wenn Kirchen und Diakonie der Gewerkschaft Plätze in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen anbieten?

Nein, das reicht nicht. Das Verfahren muss, wie bei Tarifverhandlungen, zu einem ausgewogenen Ergebnis führen können. Wenn es in der Arbeitsrechtlichen Kommission keine Einigkeit gibt, können beide Seiten eine verpflichtende Schlichtung anrufen. Da die Gewerkschaften in einer Minderheitenposition sind, sind sie dazu  aus eigener Kraft aber gar nicht in der Lage, was sie faktisch marginalisiert. In der Schlichtungskommission ist letztlich die Stimme des Vorsitzenden ausschlaggebend. Seine Neutralität ist über das Bestellungsverfahren aber nicht ausreichend gesichert, weshalb die Beschäftigten deutlich schlechtere Chancen  zur Durchsetzung ihrer Interessen haben als die Arbeitgeber. Es ist also keine wirkliche Parität gegeben. Der ehemalige BAG-Präsident Thomas Dieterich hat einmal in einem Beitrag sehr deutlich erklärt: Die kirchlichen Verfahren sind kein Äquivalent zur Tarifautonomie, die Anforderungen des BAG von 2012 sind nicht erfüllt. Von daher bleibt es beim  Streikrecht.

 
Professor Wolfgang Däubler und ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler im Gespräch

Eine weitere Bedingung des BAG ist Verbindlichkeit. Tarifverträge können von gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten eingeklagt werden. Wie verhält es sich mit kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR)?

Es muss im Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf die AVR geben. Wenn kirchliche Einrichtungen das aber nicht oder nur mit Abstrichen reinschreiben, ist dies zwar ein Verstoß gegen innerkirchliche Verpflichtungen, hat ansonsten aber keine Konsequenzen. In der katholischen Kirche müssen die in der Arbeitsrechtlichen Kommission oder in der Schlichtung erzielten Ergebnisse sogar noch vom Bischof bestätigt werden. Nach katholischer Doktrin ist das eine über den Papst vermittelte, letztlich von Gott gegebene Befugnis, auf die ein Bischof gar nicht verzichten kann. Mit den vom BAG genannten Bedingungen ist das selbstverständlich nicht vereinbar.

 

Ein weiterer Unterschied besteht in den möglichen Verhandlungsgegenständen. An nunmehr 26 Krankenhäusern hat ver.di Tarifverträge für mehr Personal und Entlastung durchgesetzt. Wäre so etwas auf dem kirchlichen »Dritten Weg« überhaupt denkbar?

Wenn man die Zahl der für bestimmte Aufgaben einzusetzenden Arbeitskräfte bestimmt, ist das eine sogenannte Betriebsnorm. Betriebsnormen sind im innerkirchlichen Recht aber gar nicht vorgesehen. Sie können von den Arbeitsrechtlichen Kommissionen deshalb auch gar nicht festgelegt werden .

 

Ohne eine Möglichkeit, Druck aufzubauen, dürfte es ohnehin unmöglich sein, so etwas in Arbeitsrechtlichen Kommissionen zu erreichen. Zum Beispiel an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen haben die Beschäftigten 2022 insgesamt 77 Tage gestreikt, um einen Tarifvertrag Entlastung durchzusetzen.

Wenn es um eine solche Grundsatzfrage geht, ist der Widerstand der Arbeitgeberseite besonders groß. Daher ist so etwas auf dem »Dritten Weg« in der Tat kaum vorstellbar, selbst wenn es juristisch möglich wäre. Die Kirche wird sich an das kollektive Arbeitsrecht erst noch gewöhnen müssen. Ein Anfang wird derzeit in Weimar gemacht.

Interview: Daniel Behruzi

 

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