Es ist ein zehntausendfacher Hilferuf: Am Freitag (24. Mai 2024) übergab eine ver.di-Delegation eine »kollektive Gefährdungsanzeige« an die Konferenz der Jugend- und Familienminister*innen in Bremen – unterzeichnet von mehr als 27.000 Kita-Beschäftigten aus dem ganzen Bundesgebiet. Die Vorsitzende der Ministerkonferenz, Bremens Senatorin für Kinder und Bildung, Sascha Aulepp (SPD), nahm die zwei großen roten Pappkartons voller Gefährdungsanzeigen entgegen, mit denen die Beschäftigten auf die katastrophalen Bedingungen in den Kindertagesstätten hinweisen und rasche Abhilfe einfordern.
»Wir empfehlen den Kolleginnen immer, Gefährdungsanzeigen zu schreiben, wenn sie überlastet sind und den Bedürfnissen der Kinder nicht mehr gerecht werden können«, erklärt die Erzieherin Kirsten Axt, die in Hamburg bei einem kirchlichen Träger arbeitet. Das erreiche zwar die Einrichtungsleitungen, nicht aber diejenigen, die für die Rahmenbedingungen verantwortlich sind. »Eigentlich müssten alle täglich Gefährdungsanzeigen schreiben, das ist bei unseren Diskussionen in der ver.di-Landesfachkommission Kitas in Hamburg deutlich geworden«, berichtet die Gewerkschafterin. Bei den fachbereichsübergreifenden Diskussionen in ver.di entstand die Idee, nicht mehr nur individuell, sondern kollektiv eine Gefährdungsanzeige zu stellen – und sie bei den richtigen Adressaten abzugeben: den politisch Verantwortlichen.
Bundesweit haben ver.di-Aktive in den vergangenen Wochen in Kitas unterschiedlicher Trägerschaft Unterstützung für diese kollektive Gefährdungsanzeige gesammelt – mit enormer Resonanz. »Die allgemeine Erschöpfung in den Kitas zeigt sich in einer dramatischen Zunahme psychischer und anderer Erkrankungen«, erklärt Kirsten Axt. »So kann es nicht weitergehen!« Deshalb fordern sie und ihre Mitstreiter*innen aus den Kitas der unterschiedlichen Träger unter anderem einen Stufenplan zum Ausbau der Erzieherausbildung. Der aktuelle Fachkräftemangel komme nicht überraschend, betont Kirsten Axt. »Wir fordern seit mindestens 20 Jahren Veränderungen in der Ausbildung. Jetzt kommt die Botschaft langsam an – aber viel zu spät.« Zudem müsse sich die Refinanzierung verbessern. In Hamburg würden die Gehälter pauschal refinanziert, das reicht aber nur bis zur Entgeltstufe 3. »Bei langjährigen Beschäftigten zahlen die Träger drauf. Wir fordern, dass Tariflöhne immer voll refinanziert werden.« Bei freien Trägern ist das auch anderswo ein Problem.
Als Sofortmaßnahme müssten kurzfristig Kolleg*innen für Küche, Hausarbeit, Hausmeisterdienste und Verwaltung eingestellt werden, um die pädagogischen Fachkräfte zu entlasten. »Wir brauchen refinanzierte Stellen für Aushilfen, Vertretungen für Krankheit, Urlaub oder Fortbildung, Zeit zur Dokumentation und zur Vor- und Nachbereitung«, sagt die Erzieherin Jessica Wohlers von den Hamburger Elbkindern. »Es darf nicht länger heißen: Das schafft ihr schon. Wir schaffen das schon lange nicht mehr!«
Die hohe Arbeitsbelastung habe zur Folge, dass es Kolleg*innen immer öfter nicht bis zum gesetzlichen Rentenalter im Beruf aushalten, berichtet die Sozialpädagogin Anja Sinsch, die bei einem freien Träger in Bremen arbeitet. »Es braucht dringend mehr Personal – und zwar Fachkräfte«, sagt die Betriebsrätin. Zunehmend unqualifiziertes Personal einzustellen, wie es in Bremen und auch anderswo geschieht, sei der falsche Weg. »Das bedeutet noch mehr Druck für die Fachkräfte, an denen die ganze Verantwortung hängen bleibt«, kritisiert Anja Sinsch.
Entscheidend für die Gewinnung neuer Fachkräfte sind gute Ausbildungsbedingungen. Doch auch hier liegt einiges im Argen, wie David Roumiantsen erklärt, der gerade seine berufsbegleitende Erzieherausbildung bei einem diakonischen Träger in Leipzig abschließt. »Auszubildende werden vom ersten Tag an voll eingesetzt, in manchen Einrichtungen werden sie als billige Arbeitskräfte missbraucht«, berichtet er. Begleitung und Schulung kämen im hektischen Kita-Alltag häufig zu kurz. Die vorgesehenen wöchentlichen Praxisanleitungsgespräche fielen wegen der Personalnot allzu oft aus. Die Folgen seien eine frühe Desillusionierung und Frust unter den angehenden Fachkräften. »So führt der Personalmangel von heute zu einem potenzierten Personalmangel morgen. Wir müssen gegensteuern: mit attraktiven Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen«, findet David Roumiantsen.
Sofort nach seinem Abschluss muss er die Gruppe mit 17 Kindern, die er aktuell betreut, alleine übernehmen. »Das ist stressig, sowohl für die Fachkräfte als auch für die Kinder.« Zumal noch Vor- und Nachbereitung, Dokumentation, Portfolio, Elternarbeit und vieles mehr hinzukämen. »Das ist in der Dienstzeit gar nicht zu schaffen, man hat ständig das Gefühl, nicht fertig zu sein«, berichtet der junge Erzieher. »Die Arbeit mit den Kindern ist total bereichernd und schön. Aber die Rahmenbedingungen sind frustrierend.« David Roumiantsen will dennoch erstmal bleiben – und mithelfen, die Bedingungen zu verbessern.