Krankenhaustagung 2022

Viel in Bewegung

ver.di-Krankenhaustagung 2022: Die Umbrüche in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen sind groß. Ebenso die Herausforderungen für Gewerkschaften und Interessenvertretungen.
10.11.2022


Pandemie, Krieg, Klimawandel, steigende Energiepreise – die Liste der aktuellen Krisen ist lang. »Man kann auf solche Krisen ganz unterschiedlich reagieren«, erklärte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler am Donnerstag (10. November 2022) bei der 13. ver.di-Krankenhaustagung in Berlin. »Man kann den Kopf in den Sand stecken oder ins Handeln kommen – Letzteres ist der gewerkschaftliche Weg.« Mitmischen – das wollen die in Berlin versammelten rund 300 betrieblichen Interessenvertreter*innen und ihre Gewerkschaft ver.di ganz konkret: Mit der Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, mit Tarifbewegungen für mehr Geld oder Entlastung und mit der Einflussnahme auf gesundheitspolitische Entscheidungen.

»Wir sitzen nicht auf der Zuschauerbank, sondern erheben unsere Stimme für eine solidarische Gesellschaft«, sagte Bühler in ihrem Auftaktreferat. Das bezog sich zum einen auf die gesellschaftspolitischen Debatten zum Umgang mit der Energiekrise, zum anderen auf die Situation im Gesundheitswesen. Dass ver.di hier erfolgreich Einfluss nimmt, zeigt sich unter anderem darin, dass die Bundesregierung nun endlich einen Gesetzentwurf zu Personalvorgaben im Krankenhaus vorgelegt hat. »Dafür kämpfen wir seit über zehn Jahren. Wir haben einen langen Atem bewiesen und viele großartige Aktionen auf die Beine gestellt«, bilanzierte Bühler. »Wir haben es noch nicht geschafft, aber so weit waren wir noch nie.« Auch auf den letzten Metern werde die Gewerkschaft weiter Einfluss nehmen, um wirksame Entlastung zu erreichen.

 
Sylvia Bühler bei der ver.di-Krankenhaustagung 2022 in Berlin

Konkret fordert ver.di Nachbesserungen am Gesetzentwurf, wie die Einbeziehung der Intensivstationen und die Streichung des geplanten Vetorechts des Bundesfinanzministers. »Es ist absurd, die Personalvorgaben unter den Vorbehalt der Zustimmung von Herrn Lindner zu stellen, den ich bisher nicht als Gesundheitsexperten erlebt habe«, sagte Bühler. »Sollte es tatsächlich an ihm scheitern, dann ziehen wir nach Berlin vors Finanzministerium.« Zunächst sei aber der Bundestag gefordert, die nötigen Änderungen am Gesetzentwurf vorzunehmen. Dafür machen auch die betrieblichen Interessenvertretungen Druck: Viele wollen ihre örtlichen Bundestagsabgeordneten zu Gesprächen über die Gesetzesvorlage in die Betriebe einladen – per Postkarte, verschickt über einen eigens bei der Berliner Tagung aufgestellten Briefkasten.

 

Herausforderungen in der Tarifpolitik

Einiges erreicht hat ver.di auch in der Tarifpolitik. Bühler verwies auf die erfolgreichen Tarifkämpfe für Entlastung bei Charité und Vivantes in Berlin, an den sechs nordrhein-westfälischen Universitätskliniken sowie an der Uniklinik Frankfurt. An der Dresdener Uniklinik sowie am kommerziell betriebenen Uniklinikum Gießen und Marburg haben sich Beschäftigte ebenfalls auf den Weg gemacht, Entlastung per Tarifvertrag zu erreichen.

Viel vorgenommen hat sich die Gewerkschaft in der anstehenden Tarifrunde des öffentlichen Dienstes. Diese Tarifauseinandersetzung, bei der ver.di 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro monatlich mehr fordert, werde »extrem herausfordernd« sein, prophezeite Bühler. Den Beschäftigten der kommunalen Kliniken komme bei der Durchsetzung der Forderungen eine wichtige Rolle zu. Bereits laufende Tarifverhandlungen im Krankenhausbereich zeigen, dass die Konflikte in der Tat härter werden. So will zum Beispiel Sana erst 2024 dauerhafte Lohnerhöhungen zugestehen und bis dahin nur Einmalzahlungen leisten. Ihre Unterstützung mit den Kolleg*innen des kommerziellen Klinikbetreibers machten die Teilnehmer*innen der Krankenhaustagung mit einem Solidaritätsfoto deutlich.

 
Lena Mayr aus dem Uniklinikum Tübingen bei der ver.di-Krankenhaustagung 2022

Auch die vier baden-württembergischen Unikliniken wollen ihre Beschäftigten weitgehend mit Einmalzahlungen abspeisen. »Das ist nicht nachhaltig«, betonte die Physiotherapeutin Lena Mayr aus dem Uniklinikum Tübingen, die sich in der ver.di-Verhandlungskommission engagiert. »Am Ende muss das Geld in die Entgelttabelle eingehen, dafür gehen wir auf die Straße.« An einer ersten Warnstreikwelle hatten sich an den Unikliniken Ulm, Tübingen, Heidelberg und Freiburg insgesamt mehr als 2.500 Beschäftigte beteiligt. Vor der nächsten Verhandlungsrunde am 1. Dezember will ver.di mit weiteren Arbeitsniederlegungen den Druck erhöhen.

 

Strukturen im Gesundheitswesen verändern sich

Ebenfalls viel in Bewegung ist in Bezug auf die Strukturen im Gesundheitswesen, wie der Vortrag des Gesundheitswissenschaftlers Thomas Gerlinger von der Uni Bielefeld deutlich machte. Bei den Krankenhäusern gehe der Trend in Richtung Zentralisierung, Spezialisierung und Bettenabbau. Als Begründung dient oft die hierzulande im internationalen Vergleich recht hohe Dichte an Krankenhausbetten. Der Professor gab allerdings zu bedenken, dass sich dies in der Corona-Pandemie als Vorteil erwiesen habe. Zudem bestünden in Ländern wie Schweden, Großbritannien und den Niederlanden oft lange Wartelisten für Krankenhausbehandlungen, es gebe dort also eine Unterversorgung.

In Deutschland sei vor allem das Finanzierungssystem der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) sowohl für Unter- als auch für Über- und Fehlversorgung verantwortlich, betonte Gerlinger. »Es ist daher dringend erforderlich, eine Alternative an die Stelle des DRG-Systems zu stellen.« Ein weiteres gravierendes Problem sieht er in dem historisch bedingten Nebeneinander von ambulanter und stationärer Versorgung. Der Bundesgesetzgeber müsse eine sektorenübergreifende Bedarfsplanung schaffen und die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung ermöglichen.

 
ver.di-Krankenhaustagung 2022 in Berlin

ver.di sei gefordert, sich mit eigenen Konzepten zum Umbau der Versorgungsstrukturen einzubringen. Diese müssten allerdings regional differenziert sein, da die Bedarfe je nach Bevölkerungsstruktur unterschiedlich sind. Eine weitere Empfehlung des Professors: »ver.di sollte immer wieder deutlich machen, dass eine bedarfsgerechte Versorgung nur mit guten Arbeitsbedingungen zu haben ist.« So zeige die Gewerkschaft, dass sie nicht nur die Partikularinteressen der Beschäftigten vertritt, sondern auch eine gute Gesundheitsversorgung im Blick hat.

 

Mitbestimmen, mitgestalten

Wie Veränderungen auf betrieblicher Ebene angegangen werden können, war Thema eines Beitrags von Markus Lemke, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Kliniken Südostbayern AG, und Eckhard Geitz vom Bildungsinstitut im Gesundheitswesen (BiG). Ein Schlüssel sei, dass sich betriebliche Interessenvertretungen gemeinsam mit Arbeitgebern für eine strategische Personalentwicklung einsetzen. So wurde in dem kommunalen Klinikverbund der Landkreise Traunstein und Berchtesgadener Land eine Analyse zu Qualifikationsbedarfen erstellt. Daraus folgten Fortbildungsangebote, die sowohl im Sinne der Beschäftigten als auch des Unternehmens seien. Auf diese Weise könnten Talente und Potenziale innerhalb der Belegschaft genutzt werden.

Allerdings werden Potenziale vielfach schon während der Ausbildung zunichte gemacht. Das machen die Ergebnisse des Ausbildungsreports Pflegeberufe 2021 deutlich, die Hanna Stellwag von der ver.di-Bundesverwaltung vorstellte. Demnach sind weniger als 43 Prozent der Auszubildenden in der Pflege zufrieden mit ihrer Ausbildung – weit weniger als in anderen Ausbildungsberufen. Insbesondere bei der Praxisanleitung bestehen laut Befragung große Defizite. Stellwag forderte die Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen auf, sich im Betrieb für gute Ausbildungsbedingungen stark zu machen. »Ausbildung ist nicht nur das Thema der Jugend- und Auszubildendendenvertretung. Die Devise muss sein: mitbestimmen, mitbestimmen, mitbestimmen!«

 
Hanna Stellwag bei der ver.di-Krankenhaustagung 2022

So könnten die Interessenvertretungen durch ihre Mitwirkungsrechte bei Dienst- und Ausbildungsplänen gegen Stationshopping, also die kurzfristige Änderung des Einsatzorts, und Überstunden von Auszubildenden vorgehen. Über die Kooperationsverträge könnten sich die Gremien auch Einfluss auf die Ausbildungsqualität in externen Einsätzen sichern. Die Daten des Reports sollten genutzt werden, um die Ausbildungsbedingungen im Betrieb und darüber hinaus zum Thema zu machen. »Die strukturellen Probleme in den Krankenhäusern schlagen sich auch in der Ausbildung nieder«, fasste Stellwag die Kernaussage des Reports zusammen. Gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen seien entscheidend, um die Herausforderungen zu bewältigen. Dafür werden sich ver.di und die Interessenvertretungen weiter auf allen Ebenen einsetzen.

 

Weiterlesen

1/12

Kontakt

Immer aktuell informiert

Schon abonniert? Der Newsletter Gesundheit und Soziales hält dich immer auf dem Laufenden.