Ihr habt euch in den laufenden Tarifverhandlungen für die rund 30.000 betroffenen Beschäftigten an den vier baden-württembergischen Unikliniken viel vorgenommen: Parallel wird über Geld, Entlastung, Ausbildungsqualität und ein sogenanntes Lebensphasenkonto verhandelt. Warum wollt ihr dieses große Paket schnüren?
Im Kern geht es darum, die Arbeitsbedingungen so attraktiv zu gestalten, dass wir dem zunehmenden Fachkräftemangel begegnen können. Wir haben 4.000 Kolleginnen und Kollegen an den Unikliniken gefragt, was sich ändern muss. Auf dieser Basis und aufgrund von sehr vielen Gesprächen hat die ehrenamtliche ver.di-Tarifkommission die Forderungen beschlossen. Eins ist klar: Wenn wir die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern nicht nachhaltig verbessern, hat die Gesellschaft als Ganzes ein Problem. Denn dann gibt es irgendwann nicht mehr genug Beschäftigte, die kranke Menschen pflegen und versorgen wollen.
Einen Tarifvertrag Entlastung gibt es an den Unikliniken im Südwesten bereits. Warum wird er nun neu verhandelt?
Wir mussten feststellen, dass der 2018 ausgehandelte Tarifvertrag Entlastung nicht die Wirkung entfaltet, die er haben sollte. Wir wollen Belastung vermeiden – indem so viel Personal eingesetzt wird, wie für eine bedarfsgerechte Versorgung nötig ist. Ist das nicht der Fall, muss es für die betroffenen Beschäftigten einen Belastungsausgleich in Form zusätzlicher Freizeit geben. Das fehlt im bisherigen Tarifvertag. Nach drei unterbesetzten Schichten oder drei anderweitig belastenden Situationen – zum Beispiel bei Übergriffen oder Einspringen außerhalb des Dienstplans – sollen die Kolleg*innen einen zusätzlichen freien Tag bekommen.
Auszubildende sollen 25 Prozent ihrer Zeit in Praxisphasen eine strukturierte Anleitung erhalten. Im Pflegeberufegesetz sind nur zehn Prozent vorgeschrieben. Warum braucht es mehr?
Für eine qualitativ hochwertige Anleitung braucht es mehr Zeit, gut vorbereitet und in Ruhe anzuleiten. Auszubildende sind unsere Zukunft. Sie gut zu qualifizieren, ist das beste Mittel gegen den Fachkräftemangel. Die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen müssen so gut sein, dass die Kolleg*innen nicht nur ihre Ausbildung erfolgreich abschließen können, sondern auch dauerhaft im Beruf bleiben.
Das gilt auch für die Auszubildenden in der Physiotherapie und der Medizinisch-technischen Assistenz, für die die Vorgaben zur Praxisanleitung ebenfalls gelten sollen. Und: Praxisanleiter*innen müssen für diese Tätigkeit von der sonstigen Arbeit freigestellt werden – inklusive Vor- und Nachbereitung. Das geht nicht nebenher.
Ihr fordert auch ein Lebensphasenkonto, in das der Arbeitgeber jedes Jahr fünf Tage einbringt. Wie sollen Beschäftigte diese Zeit verwenden können?
So, wie es ihre Lebensumstände erfordern und wie sie es wollen. Ob sie Zeit für die Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen brauchen, oder ob sie sich mal eine Auszeit nehmen oder früher in Rente gehen möchten – wenn die Menschen mehr solcher Spielräume haben, macht das die Berufe attraktiver. Die Arbeitgeber haben ausgerechnet, dass fünf zusätzliche freie Tage pro Jahr die Kosten um 2,49 Prozent erhöhen würden. Nach unserer Rechnung ist es noch etwas weniger. Das ist also durchaus leistbar.
Was sagt ihr zu dem Argument, angesichts des Arbeitskräftemangels sei mehr Freizeit nicht drin?
Die Beschäftigten stimmen schon mit den Füßen ab. Wegen der hohen Belastung reduzieren immer mehr Kolleg*innen ihre Arbeitszeit – auf eigene Kosten –, oder gehen ganz aus dem Beruf. Es ist also genau umgekehrt: Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern, um Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten – und dazu gehören mehr Erholung, freie Zeit und Arbeitszeitsouveränität.
In anderen Tarifrunden der vergangenen zwei Jahren standen Lohnforderungen im Mittelpunkt. Welche Rolle spielt das an den Unikliniken in Baden-Württemberg?
Eine große. Wir fordern elf Prozent, mindestens 500 Euro monatlich mehr. Als Ergebnis der letzten Tarifrunde wurden die Tabellenentgelte zwar im Januar um 250 Euro im Monat erhöht. Davor hatten wir aber neben Einmalzahlungen lediglich eine Erhöhung von 2,1 Prozent Anfang 2021. Es besteht also erheblicher Nachholbedarf. Wenn die Unikliniken für Arbeitskräfte attraktiv bleiben wollen, müssen sie ordentlich nachlegen. Unterm Strich hatten wir in den letzten drei Jahren einen Reallohnverlust. Diesen gilt es auszugleichen.
Acht Verhandlungstage gab es bereits. Wie reagieren die Arbeitgeber auf die Forderungen?
Sie sagen, sie könnten unsere Forderungen nicht erfüllen. In Wahrheit wollen sie nicht. Dabei ist klar: Wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht verbessern und dadurch das nötige Personal fehlt, werden die Kliniken Leistungen einschränken und Betten sperren müssen. Der bessere Ansatz ist: Wir machen die Arbeitsplätze so attraktiv, dass sich auch in zehn Jahren noch genug Menschen für diese so wichtigen Tätigkeiten finden. Im Gesundheitswesen gibt es viel weniger Möglichkeiten, menschliche Arbeit durch Digitalisierung und Automatisierung zu ersetzen als in anderen Branchen. Wenn die Gesundheitseinrichtungen den Wettbewerb um die besten Hände und Köpfe verlieren, wäre das fatal für die ganze Gesellschaft.
Anfang Juni sind rund 1.800 Beschäftigte an den vier Klinikstandorten in erste Warnstreiks getreten. Weitere Arbeitsniederlegungen könnten folgen. Wie schätzt du die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen ein, sich für ein gutes Tarifergebnis zu engagieren?
Wir sind seit Wochen und Monaten in den Kliniken unterwegs, führen viele, viele Gespräche. Wir machen immer wieder klar: Ohne die Bereitschaft, sich zu organisieren, sich an Warnstreiks und Aktionen zu beteiligen, wird sich dieses große Forderungspaket nicht durchsetzen lassen. Nach jeder größeren Verhandlungsrunde berichten wir über die Angebote der Arbeitgeber und fragen die Kolleg*innen ganz offen: Seid ihr bereit, euch einzusetzen, damit wir mehr herausholen? Die Antworten aus den Teams sind bislang eindeutig: Sie wollen bessere Arbeitsbedingungen erreichen. Das zeigt sich auch an der guten Beteiligung an den Warnstreiks. Die Arbeitgeber sollten die Entschlossenheit und Ausdauer der Kolleg*innen an den Unikliniken nicht unterschätzen.
Interview: Daniel Behruzi
Landesfachbereichsleiter Baden-Württemberg
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