»Aus der Krise lernen – der Mensch als Maßstab!« Unter diesem Motto diskutierten am Donnerstag und Freitag (11./12. November 2021) rund 180 Interessenvertreter*innen bei der ver.di-Krankenhaustagung 2021 in Berlin über aktuelle Entwicklungen im Gesundheitswesen. Sie forderten, die notwendigen Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen in der Pandemie zu ziehen. Es brauche bedarfsgerechte Personalvorgaben, eine auskömmliche Finanzierung und gute Löhne, so der Tenor der Debatten. Zugleich machten sich die Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter*innen in einer Vielzahl von Workshops fit für eine wirksame Interessenvertretung im Betrieb.
In der vierten Welle der Pandemie liegt der öffentliche Fokus erneut auf der Situation in den Krankenhäusern. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke betonte zum Auftakt der Tagung, dass sich daraus auch Chancen ergeben. »Noch nie gab es so eine positive öffentliche Aufmerksamkeit für die Probleme und die Leistungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen«, stellte er fest. Das biete die Möglichkeit, endlich Verbesserungen durchzusetzen. »Aber: Aus Dankbarkeit passiert gar nichts. Das schaffen wir nur aus eigener Kraft, durch unsere eigene Stärke.«
Deutlich wird das aktuell in der Tarifrunde der Länder, bei der die Arbeitgeber »auf Krawall gebürstet sind«, wie es Werneke auf den Punkt brachte. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) lehnt sowohl einen Ausgleich der aktuell hohen Inflationsrate als auch besondere Verbesserungen für Gesundheitsbeschäftigte kategorisch ab. Die dramatischen Entwicklungen in den Krankenhäusern würden von den Arbeitgebern »vollständig negiert – das ist dreist«, so der Gewerkschaftsvorsitzende. Deshalb sei es gut, dass in den Bundesländern »eine spürbare Streikbewegung« entstehe. Die Beschäftigten von Unikliniken und Landeskrankenhäusern kämpften dabei sowohl für ihre eigenen Belange als auch für die gemeinsamen Interessen aller Kolleginnen und Kollegen im Landesdienst. ver.di fordert für alle Beschäftigten fünf Prozent, mindestens aber 150 Euro mehr. Im Gesundheitswesen soll der Mindestbetrag mit 300 Euro doppelt so hoch liegen. Angesichts der hohen Preissteigerung seien diese Forderungen »absolut realistisch«, betonte Werneke.
Mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP forderte er, die von Deutscher Krankenhausgesellschaft, Deutschem Pflegerat und ver.di entwickelte PPR 2.0 unmittelbar umzusetzen. Der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe die bedarfsgerechte Personalbemessung für die Krankenhauspflege zwei Jahre in der Schublade liegengelassen. »Wir verlangen von der Bundesregierung, dass dieses Spiel nicht weiterläuft. Das ist für uns eine Top-Priorität.«
Die Behauptung, verbindliche und bedarfsgerechte Personalvorgaben seien angesichts des Fachkräftemangels nicht möglich, widerlegte Dr. Jennie Auffenberg von der Arbeitnehmerkammer Bremen in ihrem Vortrag über eine gemeinsame Studie mit dem Socium Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Demnach könnten deutschlandweit hochgerechnet zwischen 92.000 und 170.000 zusätzliche Pflegestellen allein dadurch besetzt werden, dass Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeiten aufstocken. Zehntausende weitere Arbeitskräfte könnten durch die Rückkehr examinierter Pflegepersonen gewonnen werden. Die Voraussetzung dafür sind unter anderem: bessere Arbeitsbedingungen, Wertschätzung in Form guter Löhne und Respekt vor dem Privatleben. Vor allem aber: mehr Personal. »Wir brauchen mehr Personal, um mehr Personal zu gewinnen«, brachte Auffenberg das Dilemma auf den Punkt.
Der Krankenpfleger Volker Mörbe vom Klinikum Stuttgart plädierte vor diesem Hintergrund dafür, die Belegung auf den Stationen bei Personalmangel zurückzufahren. Die permanente Überbelegung überfordere die Beschäftigten und verhindere eine qualitativ hochwertige Versorgung. Sebastian Höhne vom Uniklinikum Mannheim machte darauf Aufmerksam, dass nicht nur ein Teil der Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeiten aufstocken, sondern auch viele Vollzeitkräfte ihre Arbeitszeiten reduzieren wollten. Der ver.di-Vertrauensleutesprecher brachte deshalb die Forderung nach einer »kurzen Vollzeit« von 30 Stunden pro Woche für alle ins Spiel.
Für eine lebhafte Diskussion sorgte Franz Knieps vom Vorstand des BKK-Dachverbands mit Thesen zur Zukunft der Krankenversorgung. Er attestierte den Kliniken ein »Kulturproblem«: »Die Organisationsprinzipien vieler deutscher Krankenhäuser sind immer noch eher mit der preußischen Heeresordnung vergleichbar als mit modernem Management.« Vielerorts herrsche in der Ärzteschaft altes Hierarchiedenken sowie »Dünkel und Arroganz«, die überwunden werden müssten. Knieps forderte »eine neue Definition der stationären Versorgung«, bei der Krankenhäuser verstärkt auch ambulante Leistungen erbringen und Medizinische Versorgungszentren deutlich ausgebaut werden. Diese dürften allerdings nicht Hedge-Fonds gehören, sondern müssten von kommunalen und freigemeinnützigen Trägern betrieben werden.
Zugleich sprach sich Knieps für eine stärkere Spezialisierung und Zentralisierung von Krankenhausleistungen aus. »Die Diskussion über Mindestmengen und Qualitätsstandards ist dabei nahezu essenziell.« Alle Klinikstandorte erhalten zu wollen, sei eine Illusion. Es gehe ihm nicht darum, Geld zu sparen, betonte der BKK-Vertreter. »Klar ist: Wenn wir das System bedarfsgerecht umbauen wollen, müssen wir Geld in die Hand nehmen.« Konkret schlug er vor, einen Fonds von mindestens 1,5 Milliarden Euro im Jahr aufzulegen, um damit »bedarfsnotwendige und zukunftsfähige« Investitionen zu finanzieren. Die Idee der Zentralisierung blieb indes nicht unwidersprochen. Mehrere Teilnehmer*innen wiesen darauf hin, dass die Zusammenlegung von Krankenhäusern weder das Problem des Personalmangels löse noch die Berufe attraktiver mache. Herta Laages von den Regio Kliniken in Elmshorn betonte, dass die Interessenvertretungen Veränderungen in der Versorgungsstruktur begleiten und sich hierzu differenziert positionieren sollten.
Der zweite Konferenztag begann mit einer Aktion von Asklepios-Beschäftigten aus Brandenburg, die bereits 22 Tage für die Angleichung ihrer Löhne und Gehälter an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) gestreikt haben und in der kommenden Woche erneut in den Ausstand treten wollen. Es könne nicht angehen, dass Beschäftigte über 30 Jahre nach der deutschen Einheit noch hunderte Euro monatlich weniger verdienten als ihre Kolleg*innen in Göttingen oder Hamburg im gleichen Konzern, kritisierte Heiko Piekorz von der ver.di-Tarifkommission am Askepios-Fachklinikum Lübben. Sollte der kommerzielle Betreiber nicht auf die Gewerkschaftsforderung eingehen, gefährde dies die psychiatrische Versorgung in der Region. »Dann wird niemand mehr da sein, der die Patientinnen und Patienten versorgt, weil die Leute ausgebrannt sind und gehen.«
Nur mit besseren Löhnen sei es möglich, genug Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten. »Die Kolleginnen und Kollegen sind hoch motiviert und bereit, dafür weiter auf die Straße zu gehen«, sagte der ver.di-Aktivist unter dem Applaus der versammelten Krankenhausbeschäftigten, die den Brandenburger Kolleg*innen auf einem großen Plakat mit vielen Unterschriften ihre Solidarität bekundeten.
Auch Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand würdigte die Tarifbewegung der Asklepios-Beschäftigten. Ebenso den erfolgreichen Arbeitskampf von Servicekräften am Klinikum Kiel, denen die Angleichung an den TVöD bis 2024 zugesagt wurde. Besonders gratulierte die Leiterin des ver.di-Bundesfachbereichs Gesundheit und Soziales den Beschäftigten der Berliner Krankenhausträger Charité und Vivantes sowie der Vivantes-Tochtergesellschaften. Letztere hatten nach wochenlangen Streiks große Schritte zur Angleichung an den TVöD erreicht, während die Beschäftigten der Kliniken Tarifverträge zur Entlastung durchgesetzt haben.
Am Vortag hatte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke die Kolleg*innen bei Charité und Vivantes zu ihrem Tariferfolg beglückwünscht. »Das war ein Arbeitskampf, wie wir ihn in dieser Dimension im Gesundheitswesen seit langem nicht gesehen haben.« Dass sich die Beschäftigten systematisch vernetzt und auf die politischen Entscheidungsträger eingewirkt haben, habe eine wichtige Rolle gespielt. »Entscheidend war aber, dass sie einen sehr erfolgreichen Streik auf die Beine gestellt haben«, so der ver.di-Vorsitzende. Im Zuge der Auseinandersetzung hätten sich 2.600 Kolleginnen und Kollegen neu in der Gewerkschaft organisiert. Zugleich stellte Werneke klar, dass »die Hauptverantwortung für eine bessere Personalausstattung weiter beim Gesetzgeber liegt«.
Das betonte auch Sylvia Bühler. Bedarfsgerechte Personalstandards könnten nicht in jedem Haus einzeln per Tarifvertrag durchgesetzt werden, hierfür seien klare gesetzliche Regelungen nötig. Bei tariflichen Personalvorgaben gehe es »ans Eingemachte«, da das Direktionsrecht des Managements infrage gestellt werde. »Das sind ganz harte Auseinandersetzungen, für die man sehr gut organisierte Belegschaften braucht, mit dem festen Willen, sich das zu holen«, bekräftigte Bühler. Klinikbelegschaften, die dazu bereit und in der Lage sind, werde ver.di weiterhin unterstützen und in Tarifbewegungen für Entlastung führen. Zugleich werde die Gewerkschaft weiter politischen Druck für eine bedarfsgerechte gesetzliche Personalbemessung machen – nicht nur in der Pflege, sondern für alle Beschäftigtengruppen im Krankenhaus.
Zum Abschluss der zweitägigen Konferenz ging es in einer Podiumsdiskussion noch einmal um die Schlussfolgerungen aus der Corona-Krise. Diese sei für alle Beschäftigten – ob Reinigungskräfte, Pflegepersonen, Ärzt*innen oder andere – »eine furchtbare Erfahrung«, berichtete die Vorsitzende der Mitarbeitervertretung im Helene von Bülow Klinikum in Mecklenburg-Vorpommern, Daniela Schult. Besonders schmerzlich sei »die psychische Belastung, wenn so viele Menschen in so kurzer Zeit versterben«. Erneut hätten die politisch Verantwortlichen den Sommer nicht genutzt, um die Arbeitsbedingungen und die Ausstattung in den Kliniken zu verbessern, kritisierte sie.
»Pflegekräfte und Ärzte sind wieder an der Belastungsgrenze«, konstatierte auch Uwe Klemens, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrats des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen. Er betonte, die Vorbereitung auf und die Bewältigung von Pandemien sei Aufgabe des Staates, nicht allein die der Krankenversicherungen.
Dr. Ilona Köster-Steinebach, Geschäftsführerin des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, unterstützte vehement die Forderung nach bedarfsgerechten Personalvorgaben in den Kliniken. Anders sei die Patientensicherheit nicht zu gewährleisten, sagte sie mit Verweis auf Studien, wonach die Sterblichkeit mit jedem/jeder Patient*in, die eine Pflegekraft zusätzlich gleichzeitig versorgen muss, um rund sieben Prozent steigt. Ihre Schlussfolgerung: »Pflegepersonalmangel ist tödlich.« Zudem sei schlechte Versorgung teuer. Nach Berechnungen der OECD müssten 15 Prozent aller Krankenhausressourcen für die Behandlung der Folgen unzureichender Patientensicherheit aufgewendet werden. »Es gibt also mehr Pflegebedarf weil zu wenige Pflegende da sind – ein Teufelskreis.«
Eine heftige Kontroverse entwickelte sich um ein vom Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit beim RWI – Leipniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Professor Dr. Boris Augurzky, erst am Vortag im Auftrag der AOK Rheinland-Hamburg veröffentlichtes Konzept. Dieses sieht unter anderem vor, Pflegeleistungen am Bett mit Hilfe digitaler Geräte minutengenau zu erfassen und innerhalb des DRG-Systems »erlösrelevant« zu machen. Bezahlt werden soll entsprechend der Qualifikation der Pflegekraft und mit Bezug auf das »lokale Lohnniveau«, wobei auch noch Höchstgrenzen definiert werden sollen. So könnten für die Kliniken Anreize geschaffen werden, »mehr Pflegekräfte einzustellen, um daran zu verdienen«, begründete Augurzky den Vorstoß.
»Warum muss man daran verdienen?«, hielt Sylvia Bühler dem entgegen. »Ökonomische Anreize zu schaffen, damit Aktionäre bedient werden können, das ist ein Grundübel der Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen.« Statt eigene Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) für die Pflege einzuführen, müsse das DRG-System insgesamt überwunden werden, da es eklatante Fehlsteuerungen nach sich ziehe. »Völlig falsch wäre es, das DRG-System, das jetzt schon falsch läuft, auch noch auf die Pflege auszuweiten. Dem werden wir maximalen Widerstand entgegensetzen.« Bühler verwies zudem auf die enormen Ressourcen, die zur Aufrechterhaltung des DRG-Systems verwendet werden.
Dieter Zandel vom Gesamtbetriebsrat der Ostalb-Kliniken betonte ebenfalls, das DRG-System sei »wahnsinnig teuer« und führe dazu, dass tausende ausgebildete Pflegekräfte und Ärzt*innen im Abrechnungswesen, im Controlling und anderen Bereichen arbeiteten – und in der Patientenversorgung fehlten. »Wir haben mit dem DRG-System katastrophale Erfahrungen gemacht – und das Gleiche jetzt nochmal in der Pflege? Stattdessen brauchen wir eine vernünftige Krankenhausplanung durch die Länder. Und: Alle als notwendig erachteten Kliniken und Leistungen müssen zu 100 Prozent auskömmlich finanziert werden.«
Ob in dieser oder anderen Fragen – die Widerstände gegen die notwendigen Veränderungen im Gesundheitswesen sind weiterhin groß. Vor diesem Hintergrund rief Bühler die Beschäftigten zum Abschluss der Krankenhaustagung dazu auf, sich und ihre Gewerkschaft ver.di zu stärken, um so noch stärker Einfluss auf die Gesundheitspolitik nehmen zu können.