Her mit Entlastung!

An der Medizinischen Hochschule Hannover und an den Unikliniken in Baden-Württemberg machen sich Beschäftigte für Entlastungs-Tarifverträge stark.
24.05.2024
Die Beschäftigten der baden-württembergischen Unikliniken starten vereint in die Tarifbewegung für Entlastung, mehr Geld und bessere Ausbildungsqualität.

Als die Ergotherapeutin Friederike G. nach ihrer Ausbildung vor drei Jahren bei der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) anfing, wurde sie gleich ins kalte Wasser geschmissen. »Schon nach zwei Wochen musste ich alleine in der Stroke Unit vertreten, als Berufsanfängerin ist das schon eine Herausforderung«, berichtet die heute 31-Jährige. »Es war einfach zu wenig Personal da – und so ist es bis heute.«

Damals versuchte es das 15-köpfige Ergotherapie-Team mit einer Überlastungsanzeige und forderte mehr Personal – ohne Erfolg. Als im Rahmen der Länder-Tarifrunde im Herbst 2023 eine Kollegin aus dem Uniklinikum Münster in Hannover über die erfolgreiche Bewegung für einen Tarifvertrag Entlastung in Nordrhein-Westfalen berichtete, war Friederike G. Feuer und Flamme. »Ich hatte gleich das Gefühl: So können wir wirklich etwas bewegen.« Und das versuchen sie und ihre Kolleg*innen aus vielen anderen Bereichen des Klinikums jetzt – denn überall fehlt es an Personal, stehen die Aufgaben in keinem gesunden Verhältnis zur Schichtbesetzung mehr.

Seit Wochen führen die ver.di-Aktiven an der MHH systematisch Gespräche und fragen ihre Kolleg*innen: »Bist du bereit, dich für den Tarifvertrag Entlastung einzusetzen?« Bis Anfang Mai haben 113 Teams diese Frage mehrheitlich mit Ja beantwortet. Und täglich kommen neue hinzu. Insgesamt 2.654 Beschäftigte haben die Absichtserklärung unterzeichnet – mehr als zwei Drittel aller betroffenen Kolleg*innen.»Es ist eine tolle Dynamik entstanden, sehr viele Kolleginnen und Kollegen sind aktiv geworden«, freut sich Patrick von Brandt, der bei ver.di in Niedersachsen für Krankenhäuser zuständig ist. Am 8. Mai (nach Redaktionsschluss) soll die Klinikleitung offiziell zu Tarifverhandlungen aufgefordert werden. Ziel ist eine Vereinbarung, die für möglichst viele Bereiche schichtgenau festlegt, wie viel Personal zur Verfügung steht. Werden die Vorgaben nicht eingehalten, erhalten die Betroffenen zusätzliche freie Tage als Belastungsausgleich. Solche Vereinbarungen hat ver.di zuletzt auch in Nordrhein-Westfalen, Berlin und Hessen erreicht. »Was an anderen Krankenhäusern möglich ist, muss auch in Hannover gehen«, meint Patrick von Brandt. »Geschenkt wird uns das aber sicher nicht. Voraussetzung ist, dass wir eine Organisation und Durchsetzungskraft aufbauen, die dem Arbeitgeber keine Wahl lässt. Daran arbeiten wir.«

 

Freie Zeit als Belastungsausgleich

Und daran arbeiten auch die ver.di-Aktiven an den Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm. Dort hat die Gewerkschaft bereits 2018 eine Vereinbarung zur Entlastung geschlossen, diese hat sich aber als wenig wirksam erwiesen. Es seien zwar einige Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ergriffen worden, berichtet die Personalratsvorsitzende der Uniklinik Tübingen, Lena M., aber an den Standorten sehr unterschiedlich und insgesamt unzureichend. »Es fehlt vor allem die Verbindlichkeit. Deshalb fordern wir jetzt, dass die Pflegekräfte nach drei unterbesetzten Schichten automatisch einen zusätzlichen freien Tag als Belastungsausgleich erhalten.«

Mindeststandard soll die PPR 2.0 sein, das von ver.di gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat entwickelte Konzept zur Personalbemessung in der Krankenpflege. »Es ist gut, dass die PPR 2.0 künftig per Gesetz gelten soll. Wir wollen aber nicht darauf warten, bis es verbindlich greift«, erläutert Lena M., die der ver.di-Verhandlungskommission angehört. »Wir haben schon viel zu lange gewartet. Die Entlastung muss jetzt endlich auf den Stationen ankommen. Zusätzliche freie Zeit als Belastungsausgleich ist dafür der richtige Hebel.«

Für bessere Ausbildungsqualität

Um auch die anderen Bereiche zu entlasten, fordert ver.di für die rund 30.000 Beschäftigten der baden-württembergischen Unikliniken ein Lebensphasenkonto, in das der Arbeitgeber jedes Jahr fünf Tage einbringt. Wie sie diese verwenden, können die Kolleg*innen nach ihren individuellen Bedürfnissen entscheiden. Hinzu kommen Forderungen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität, wie die Erhöhung des Umfangs der Praxisanleitung auf 25 Prozent der Einsatzzeiten und die Freistellung der Praxisanleiter*innen. »Im Regelbetrieb kommt die Praxisanleitung oft zu kurz. Dabei ist das der einzige Raum, in dem wir in Ruhe üben können und strukturiert angeleitet werden«, erklärt Aurelie S., die eine Ausbildung zur Pflegefachfrau macht und parallel Pflegewissenschaften studiert.

Insbesondere bei den Außeneinsätzen in der Altenpflege komme die Anleitung oft viel zu kurz. »Da gibt es Einrichtungen, in denen man vor allem als Hilfskraft eingesetzt statt ausgebildet wird.« Deshalb brauche es hier bessere und verbindliche Vorgaben – nicht nur für die Pflege, sondern auch für Therapeut*innen und Medizinische Technolog*innen. »Alle brauchen eine gute Ausbildung, damit wir in multiprofessionellen Teams gut zusammen arbeiten können«, betont die 22-Jährige, die sich in der ver.di-Jugendtarifkommission engagiert. »Alle sind krass belastet durch die Ausbildungssituation.« Entsprechend groß sei die Bereitschaft, sich zu engagieren: »Die Leute haben richtig Bock, für Verbesserungen zu kämpfen.«

 

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2.756 MHH-Beschäftigte unterschreiben für Tarifvertrag Entlastung

Am Ende waren es 2.756 Unterschriften von Beschäftigten der Medizinischen Hochschule Hannover, die eine Delegation von über 500 Kolleginnen und Kollegen am 8. Mai 2024 an die Geschäftsleitung und Landespolitiker*innen übergaben. 69,5 Prozent aller betroffenen Beschäftigten haben damit klargestellt, dass sie sich für einen Tarifvertrag Entlastung einsetzen werden. Die Verantwortlichen haben nun 100 Tage Zeit, den Weg dafür zu ebnen. Zugleich organisieren sich die Teams weiter und konkretisieren die Forderungen für ihre Bereiche.

 




 

Süße Entlastung an der Uniklinik Essen

»Ende März haben wir eine Tradition aus den Streiks wieder aufleben lassen und die Kolleg*innen zur ›Süßen Entlastung‹ zum Waffelessen ins Personalratsbüro eingeladen. Denn der Vorstand spielt bei der Umsetzung des Entlastungs-Tarifvertrags auf Zeit. In zwei Jahren hat er es nicht geschafft, ein digitales System zur schichtgenauen Erfassung der Belastungen in der Pflege einzurichten. Deshalb bekommen die Betroffenen jährlich weiterhin pauschal fünf zusätzliche freie Tage – statt bis zu elf. In anderen Bereichen liefert die Klinikleitung nicht die zugesagten Zahlen zum vereinbarten Personalaufbau. Um darauf hinzuweisen, wollten wir so viele Waffeln backen, wie Entlastungstage voraussichtlich bis zu diesem Tag entstanden wären. Doch irgendwann ist uns der Teig ausgegangen… .« 

Alexandra Willer, Krankenschwester und Personalratsvorsitzende am Uniklinikum Essen

 

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