Krankenhaus

    »Die Notaufnahme ist der Prellbock«

    »Die Notaufnahme ist der Prellbock«

    Ein Gespräch mit Dr. Renate Demharter und Stella Merendino. Renate ist Oberärztin in der Notaufnahme am Uniklinikum Augsburg und Sprecherin der ver.di-Bundesfachkommission Ärztinnen und Ärzte. Stella ist Gesundheits-und Krankenpflegerin in der Notaufnahme des Vivantes Humboldt-Klinikums und Mitgründerin der Initiative »Aktion:Notaufnahmen retten«.

    Wie seht ihr die aktuelle Situation in den Notaufnahmen der Krankenhäuser?

    Stella: Sie ist mehr als angespannt. Es gibt fast keinen Tag, an dem wir qualitativ hochwertig und leitliniengerecht arbeiten können. Häufig sind es einfach zu viele Patient*innen gleichzeitig für zu wenig Personal. Zum Beispiel bei einem Schlaganfall sollten neben dem Arzt oder der Ärztin zwei Pflegekräfte da sein, plus eine Verwaltungskraft für die Aufnahme. Stattdessen ist man oft allein und kann keine Kolleg*in hinzurufen, weil sie ebenfalls mit einem schweren Fall beschäftigt ist. 

    Dr. Renate Demharter Ulrich Wirth Dr. Renate Demharter

    Hinzu kommt, dass es auch auf den Stationen an Betten und vor allem an Personal fehlt. Die Folge ist ein Rückstau von Patient*innen in der Notaufnahme. Manche bleiben stundenlang bei uns liegen, weil sie nicht verlegt werden können. Dennoch fahren die Klinikleitungen das volle Programm elektiver, also verschiebbarer Eingriffe, mit denen die Betten belegt werden. Die Leidtragenden sind die Assistenzärzt*innen, wir Pflegekräfte und natürlich die Patientinnen und Patienten.

    Renate: Bei uns ist die Situation ganz ähnlich. Wenn wir lebensgefährdete Menschen in der Monitor-Kabine stabilisiert haben, müssen wir oft ein, zwei Stunden warten, bis von der Intensivstation jemand notverlegt wurde, um dort ein Bett frei zu bekommen. Das schiebt sich immer weiter nach hinten bis zu den Normalstationen, wo Patient*innen frühzeitig entlassen werden, um Platz zu schaffen. Nicht selten kommen sie wieder über die Notaufnahme ins Krankenhaus zurück. Die Decke ist einfach hinten und vorne zu kurz. 

    Wie hat die Corona-Pandemie die Situation beeinflusst?

    Renate: Zeitweise haben sich die Menschen nicht mehr ins Krankenhaus getraut, geplante Eingriffe wurden verschoben. Im Frühjahr 2020 haben wir fast nur Notfälle behandelt, das war – so merkwürdig es klingt – eine vergleichsweise entspannte Situation. Das Personal wurde umgeschichtet, hin zur Behandlung von Covid-19-Fällen. Als dann wieder viele andere Patient*innen kamen, gab es deutliche Engpässe. Das ging so weit, dass wir Intensivpatient*innen per Flugzeug nach Norddeutschland verlegen mussten, weil wir keine Kapazitäten mehr hatten.

    Stella: Bei uns gab es eigentlich keine Entspannung, es ist in der Pandemie noch schlimmer geworden. Das Hauptproblem ist, dass wir mit jeder neuen Corona-Welle Kolleg*innen verloren haben. Viele haben ihren Beruf aufgegeben – auch wegen der fehlenden Wertschätzung. So gab es für uns in den Notaufnahmen keine Corona-Prämien, weil wir nicht als »bettenführende Bereiche« zählen – als hätten wir nichts mit der Pandemie zu tun gehabt! Dabei geht es weniger ums Geld als darum, dass unsere Leistungen respektiert werden. Von Seiten der politisch Verantwortlichen ist davon nichts zu spüren. Jetzt, im Abflauen der Pandemie, sind die Leute komplett ausgelaugt. Gerade in den Notaufnahmen haben wir unglaublich viele Kündigungen.

    Stella Merendino Anne Bierstedt Stella Merendino

    Renate: Als es mit der Pandemie losging, haben uns Patient*innen ein Schild an die Tür der Notaufnahme gehängt, mit überschwänglichem Dank, dass wir jederzeit für sie da sind. Und das stimmt auch: Wir sind immer und für alle da. Die Notaufnahme ist der Prellbock. Sie muss alles ausgleichen, was im Gesundheitssystem nicht mehr ausreichend funktioniert. Niedergelassene Ärzt*innen haben Corona-Patient*innen teilweise direkt in die Notaufnahme geschickt – per Telefon, ohne sie sich überhaupt anzuschauen.

    Das heißt, die Beschäftigten in den Notaufnahmen, baden die Probleme in der ambulanten Versorgung aus?

    Stella: Ja, hier sollte die Kassenärztliche Vereinigung viel stärker in die Verantwortung genommen werden. Wir haben häufig Patient*innen, die den ärztlichen Notdienst angerufen haben und berichten, dass niemand dran ging oder ihnen gesagt wurde, einen Arzt könnten sie nicht sehen, sie sollten direkt in die Notaufnahme gehen oder die Feuerwehr rufen. Die Kassenärztliche Vereinigung schiebt das Problem auf die Notaufnahmen ab und sorgt über ihre Lobby zugleich dafür, dass das Monopol der niedergelassenen Ärzt*innen erhalten bleibt.

    Die Regierungskommission zur Neuordnung der Notfallversorgung hat nun vorgeschlagen, Integrierte Leitstellen (ILS) und Integrierte Notfallzentren (INZ) zu bilden, damit nur diejenigen in die Notaufnahmen gehen, bei denen das nötig ist. Ein richtiger Schritt?

    Stella: Wenn dieses Konzept gut ausgearbeitet und umgesetzt wird, könnte das die Situation verbessern. Aber die Erfahrung mit den Notfallpraxen in Berlin macht mich skeptisch: Da werden irgendwelche Hausärzt*innen hingesetzt, zum Teil ohne jede Erfahrung in der Notfallmedizin. Und zu deren Unterstützung wird noch Personal aus den Notaufnahmen der Kliniken abgezogen. Das kann natürlich nicht sein. Die den Notaufnahmen vorgeschalteten Stellen müssen einen eigene bedarfsgerechte Personalausstattung und eigene diagnostische Mittel haben, damit es funktioniert.

    Die Kliniken beklagen, dass die Notaufnahmen nur unzureichend finanziert werden.

    Stella: Zu Recht. Die Notaufnahmen werden innerhalb der Kliniken quersubventioniert. Im ökonomisierten System hat das zur Folge, dass der Kostendruck bei uns am stärksten ist. Die Finanzierung der Krankenhäuser muss insgesamt umgestellt werden: Statt über Fallpauschalen müssen sie bedarfsgerecht finanziert werden. Die aktuellen Pauschalen für die Notaufnahme decken die Kosten bei Weitem nicht.

    Renate: Das stimmt. Zum Beispiel bei einer vorübergehenden Lähmung ist der Standard Computertomographie mit Kontrastmitteln. Das kostet 600 bis 800 Euro – bei einer Pauschale von 160 Euro pro Patient*in. An unserer Klinik fährt die Notaufnahme ein Defizit von mindestens einer Million Euro im Jahr ein. Hinzu kommen Patient*innen, die nicht zahlungsfähig sind: Selbstständige, die nicht versichert sind, oder Migrant*innen, die von Arztpraxen abwiesen werden, weil sie keine Versicherung nachweisen können.

    Was muss sich bei der Personalbesetzung tun?

    Renate: Wir fordern schon seit Jahren eine bessere Besetzung der Intensivkabinen. Wir haben vier solcher Schockräume, die zusammen von zwei Pflegekräften betreut werden. Jede Pflegekraft hat also zwei Kabinen mit schwerstkranken Patient*innen. Die rennen nur.

    Stella: Es braucht eine feste und bedarfsgerechte Mindestpersonalbemessung, also eine verbindliche Vorgabe, wie viel Personal auf jeden Fall da sein muss. Selbst die unzureichenden Pflegepersonaluntergrenzen gelten für die Notaufnahme nicht, es gibt also keinerlei verbindliche Vorgaben. Das Nichthandeln der politisch Verantwortlichen ist beschämend. Zum Teil sind die Vorschläge der Regierungskommission sogar kontraproduktiv: So soll es für Patient*innen, die über sechs Stunden in der Notaufnahme liegen, zusätzlich 400 Euro geben. Es ist absehbar, dass die Krankenhäuser dann möglichst viele über diese Zeit in der Notaufnahme liegen lassen. Das bringt für die Beschäftigten keine Entlastung und birgt ein hohes Risiko für die Versorgungssicherheit.

    In Berlin haben die Beschäftigten von Vivantes und Charité 2021 Tarifverträge für Entlastung erreicht. Was bringt er für die Notaufnahmen?

    Stella: Wir haben für diese Vereinbarung hart gekämpft. Bei uns in der Notaufnahme haben sich 90 Prozent der Kolleg*innen aktiv eingebracht. Herausgekommen ist ein Kompromiss. Wir haben einen Schlüssel von Personal zu abgerechneten Fällen durchgesetzt – leider nicht wie gefordert zu Patientenkontakten, deren Zahl deutlich höher ist als die der abgerechneten Fälle. Für 1.025 Fälle muss durchschnittlich eine Vollzeitkraft da sein. Leitungen und Kolleg*innen in der Einarbeitung werden nicht mit eingerechnet. Zudem muss laut Tarifvertrag immer Sicherheitspersonal vor Ort sein. Denn Übergriffe auf die Beschäftigten sind in überfüllten Notaufnahmen ein großes Problem.

    Auch wenn die Personalvorgaben oft nicht eingehalten werden, ist es schon mental ein Fortschritt zu wissen, wie viele Kolleg*innen für eine bedarfsgerechte Versorgung da sein müssten. Wer mehrfach in unterbesetzten Schichten arbeitet, erhält zusätzliche freie Tage. Ich hatte seither fast eine ganze Woche zusätzlichen Urlaub, das merkt man! Und: Je mehr Freizeitausgleich Vivantes gewähren muss, desto größer ist der Druck auf den Konzern, für genug Personal zu sorgen. Die Arbeitgeber tun viel, um neue Beschäftigte zu gewinnen. Sie müssten aber auch mehr dafür tun, die Kolleginnen und Kollegen zu halten. Da passiert immer noch viel zu wenig. Auch deshalb gehen viele.

    Renate: Notaufnahme ist Teamarbeit. Je mehr langjährige Kolleg*innen das Handtuch werfen, desto mehr Erfahrung geht verloren. Immer wieder neue Leute einzuarbeiten, die dann bald wieder weg sind, ist frustrierend. Um Teamarbeit geht es auch beim Rettungsdienst, der durch die Überlastung der Notaufnahmen immer weitere Fahrten hat. Eigentlich dürfen sich Notaufnahmen nicht abmelden, faktisch passiert das aber regelmäßig. Nicht selten kriegen die Notfallsanitäter*innen den Frust der Kolleg*innen in den Notaufnahmen ab. Auch hier gilt: Zusammenhalten! Die Probleme werden vom System verursacht, daran lässt sich nur gemeinsam etwas ändern.

    In der aktuellen Tarifauseinandersetzung des öffentlichen Dienstes erleben wir auch in den Notaufnahmen eine große Streikbereitschaft. Das war früher anders. Unser Vorstand sagt immer: Das Klinikum ist ein großer Dampfer. Ja, nur leider befindet sich die Notaufnahme auf der Ruderbank, der Motor fehlt. Wenn wir nicht mehr rudern, kommt der Dampfer ins Schlingern. Genau das müssen wir klarmachen, damit sie uns endlich ernst nehmen. Es ist ein Fehler, alles auf unsere Kosten auszugleichen. Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass der Dampfer ohne uns nicht fährt. Wir müssen uns Respekt verschaffen. Zunehmend sind die Kolleginnen und Kollegen bereit, sich dafür stark zu machen.

    Interview: Daniel Behruzi


    veröffentlicht/aktualisiert am 16. Februar 2023

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