Wie verbindlich sollen Personalvorgaben in der Psychiatrie sein? Wie flexibel sollen Beschäftigte eingesetzt werden können? Und wie kann der Trend zur Verlagerung psychosozialer Hilfen in den ambulanten Bereich gut gestaltet werden? Diese und viele weitere Fragen wurden bei der Fachtagung Psychiatrie am 26. und 27. September 2024 in Frankfurt am Main kontrovers diskutiert. Große Einigkeit hingegen herrschte in einem Punkt: Der politische und gesellschaftliche Rechtsruck ist besonders für marginalisierte Gruppen wie psychisch erkrankte Menschen eine Gefahr. Es gilt, die Errungenschaften einer menschenwürdigen Psychiatrie zur verteidigen und auszubauen.
»Der Stellenwert von Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit ist nicht mehr so selbstverständlich, wie wir es vor Kurzem noch dachten«, gab Dr. Elke Prestin vom Vorstand der Aktion Psychisch Kranke e.V. zu bedenken. Auch andere Referent*innen kamen immer wieder auf dieses Thema zurück. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, betonte: »Mehr Inklusivität kann auch zu mehr Demokratie führen.« Dafür sei »echte Partizipation« nötig, womit sie die Einbeziehung der Betroffenen – also der psychisch erkrankten Menschen – in Entscheidungsprozesse meinte.
Dass die Realität diesem Anspruch noch weit hinterher hinkt, hatte zuvor Heike Liebsch deutlich gemacht: »Die Nutzer*innen sitzen am Ende der Kette«, sagte die Sozialarbeiterin und Beraterin. Allzu oft stünden nicht die Bedürfnisse der Patient*innen, sondern die Bedarfe der Institutionen im Vordergrund. Elke Prestin führte dies auch auf die Ökonomisierung zurück, bei der Patient*innen als »Kundinnen und Kunden« und psychosoziale Unterstützungsleistungen als »Waren« definiert würden. Ein entscheidender Faktor für die Genesung psychisch erkrankter Menschen sei es, Vertrauen und Beziehungen aufzubauen. Das brauche Zeit, Kontinuität und verlässliche Bezugspersonen.
Dem entgegen steht allerdings oft die unzureichende Personalausstattung. Der Sprecher der ver.di-Bundesfachkommission Psychiatrische Einrichtungen, Christof Liertz, verwies auf die diesjährige ver.di-Erhebung »Persomat«, wonach die Vorgaben der Richtlinie Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik (PPP-RL) durchschnittlich nur zu 75 Prozent erfüllt werden. Wenn zu wenig Personal auf den Stationen sei, führe dies zu schlechterer Behandlungsqualität und zu noch höherer Belastung der Beschäftigten.
Vertreter von Klinikleitungen forderten dennoch, die PPP-RL »flexibler« zu machen und Verstöße gegen die Vorgaben nicht zu sanktionieren. So erklärte der Ärztliche Direktor des kbo-Isar-Amper-Klinikums Region München, Professor Dr. Peter Brieger, die Richtlinie könne zwar als Mindeststandard hilfreich sein, es dürfe aber keinen Sanktionsmechanismus geben. Zudem müssten die unterschiedlichen Berufsgruppen flexibler anrechenbar sein. Auch der Geschäftsführer des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg, Dr. Dieter Grupp, forderte »mehr Flexibilität« beim Personaleinsatz.
Die Leiterin des ver.di-Bereichs Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik hielt dem entgegen, dass Behandlungskontinuität und Vertrauen für Patient*innen ebenso wichtig sind, wie verlässliche Dienstpläne und attraktive Arbeitszeiten für die Beschäftigten. Der Personalrat an der LVR-Klinik Bonn, Christof Liertz, ergänzte: Wenn Beschäftigte heute auf der einen und morgen auf einer anderen Station eingesetzt würden, stehe das der Arbeit im multiprofessionellen Team entgegen. »Gute Teamarbeit ist aber ein ganz wichtiges Qualitätskriterium.«
Mit Bezug auf das Argument von Klinikleitungen, es fehlten die nötigen Fachkräfte, um die Personalvorgaben einzuhalten, verwies Grit Genster auf die von der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer des Saarlandes sowie dem Institut Arbeit und Technik erstellte Studie »Ich pflege wieder, wenn…«. Diese weist nach, dass hunderttausende Pflegefachpersonen bei besseren Bedingungen in ihre Berufe zurückkehren bzw. ihre Arbeitszeiten aufstocken würden. »Dem Fachkräftemangel begegnen wir am besten mit attraktiven Arbeitsbedingungen«, so Gensters Schlussfolgerung. Sehr kritisch sehe sie vor diesem Hintergrund die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), die volle Umsetzung der PPP-RL und die Sanktionierung von Verstößen erneut zu verschieben.
Dabei handelt es sich – wie Professor Dr. Markus Kösters vom Uniklinikum Dresden aufzeigte – bei der PPP-RL lediglich um Mindestvorgaben, die noch keine leitliniengerechte Behandlung ermöglichen. 22 psychiatrische Fachgesellschaften haben deshalb das sogenannte Plattformmodell entwickelt, mit dem eine bedarfsgerechte Personalausstattung definiert werden kann. Eine Überprüfung des Modells, die sogenannte EPPIK-Studie, zeigte laut Professor Kösters, dass das Modell die Behandlungsbedarfe plausibel abbilden kann. Und: Im Vergleich zur PPP-RL wären »erhebliche Personalaufwüchse über alle Berufsgruppen hinweg« nötig, was keine Überraschung sei, da die Richtlinie bislang eben nur das Minium festschreibt. Doch selbst dieses Minimum wird – siehe oben – systematisch unterlaufen.
Bei der Podiumsdiskussion zum Abschluss der Tagung sprachen sich die Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen, CDU und Linken unisono für eine stärker sektorenübergreifende Versorgung aus – ein Thema, bei dem man sich auch bei früheren Fachtagungen stets einig war, bei dem es dennoch kaum grundlegende Fortschritte gibt. Teil dessen ist, dass möglichst viele psychiatrische Leistungen ambulant erbracht werden sollten. Tina Rudolph von der SPD betonte, die ambulante Versorgung sei, wenn möglich, meist besser für Patient*innen und ermögliche einen »effizienteren« Personaleinsatz. Kirsten Kappert-Gonther forderte: »Wir müssen dafür sorgen, dass niemand im stationären Setting bleiben muss, weil es nicht genug Angebote für Unterstützung im ambulanten Bereich gibt.«
Genau hier liegt aber das Problem, wie Kathrin Vogler von der Linkspartei erklärte: »Ambulantisierung klingt klasse – wenn es denn ausreichende ambulante Angebote gäbe.« Das sei jedoch nicht der Fall, was die »episch langen Wartelisten auf Therapieplätze« deutlich machten. Christof Liertz betonte, dass die Verlagerung von Leistungen in den ambulanten Bereich keineswegs den Personalbedarf verringert. Mit Verweis auf die Erfahrungen in Modellprojekten sagte der Personalrat: Für aufsuchende Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen brauche es mehr, nicht weniger Personal als in der stationären Behandlung. Er forderte verlässliche Personalvorgaben in allen Bereichen – ob bei ambulanten oder aufsuchenden Angeboten, Institutsambulanzen oder im Krankenhaus.
»ver.di unterstützt ausdrücklich den Ausbau einer ambulanten und sektorenübergreifenden Versorgung«, stellte Grit Genster klar. Diese dürfe jedoch nicht zur Flucht aus Tarifverträgen führen. »Wir brauchen im Gegenteil eine Stärkung der Tarifbindung – auch in der psychiatrischen Versorgung«, so die Gewerkschafterin mit Verweis auf die EU-Mindestlohnrichtlinie, die eine Tarifbindung von mindestens 80 Prozent zu Ziel erklärt. Klar sei auch: »Egal in welchem Setting: Für eine gute Versorgung braucht es genug Personal.«
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