»Gefühlte Dauerapokalypse«

Fachtagung Psychiatrie thematisiert Folgen multipler Krisen und diskutiert über richtige Schlussfolgerungen für die psychiatrische Versorgung.
16.05.2023

»Die Krisen türmen sich auf«, stellte Professor Dr. Arno Deister von der Uni Kiel zum Auftakt der 15. Fachtagung Psychiatrie am 11. Mai 2023 in Berlin fest. Angesichts von Pandemie, Krieg, Inflation und drohender Klimakatastrophe befinde sich die Gesellschaft in einer »gefühlten Dauerapokalypse«, viele Menschen seien in einem »kollektiven Zustand der Erschöpfung«. Das gilt besonders auch für diejenigen, die für psychisch kranke Menschen sorgen. Nach der Pandemie seien »die Reserven aufgebraucht«, sagte der Vorsitzende des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, Dr. Rüdiger Hannig.

 
Fachtagung Psychiatrie 2023

Das gelte für Angehörige, die im Lockdown vieles auffangen mussten, aber auch für die Beschäftigten psychiatrischer Einrichtungen. Der kaufmännische Direktor der LVR-Klinik Langenfeld, Stefan Thewes, bestätigte dies mit Blick auf die stark gestiegene Zahl der Krankmeldungen. »Früher waren das fünf oder sechs, jetzt bekomme ich 30, 40 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auf den Tisch«, berichtete er. »Daran kann man ablesen, wie es dem Personal geht – unser großes Problem ist die Überlastung.«

Die Leiterin des ver.di-Bereichs Gesundheitspolitik, Grit Genster, verwies in diesem Zusammenhang auf die soeben veröffentlichte Sonderauswertung des DGB-Index´ Gute Arbeit, wonach 75 Prozent der Pflegekräfte in Krankenhäusern und 67 Prozent in der Altenpflege davon ausgehen, ihren Beruf unter den derzeitigen Bedingungen nicht bis zum Rentenalter ausüben zu können. Etliche berichten zudem, dass sie wegen der hohen Arbeitsbelastung Abstriche an der Arbeitsqualität machen müssen. »Es geht jetzt darum, die richtigen Konsequenzen aus der Krise zu ziehen«, forderte die Gewerkschafterin.

 

Kontroverse über Sanktionen

Auf der vom Forum für Gesundheitswirtschaft in Kooperation mit Klinikträgern und Gewerkschaft organisierten Tagung herrschte im Grundsatz weitgehend Einigkeit darüber, welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Zum Beispiel, dass die sektorenübergreifende Versorgung und Vernetzung vorangetrieben werden muss – wobei die Fachärztin Dr. Bettina Wilms vom Carl-von-Basedow-Klinikum Saalekreis deutlich machte, dass es in der Praxis damit vielerorts noch nicht allzu weit her ist. Dass genug qualifiziertes Personal da sein muss, um eine gute Versorgung zu gewährleisten, war ebenfalls Konsens. Auseinander gingen die Meinungen allerdings in der Frage, ob die Vorgaben der Richtlinie »Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik« (PPP-RL) eingehalten und Verstöße sanktioniert werden müssen. Nach mehrfachen Verschiebungen soll diese Ende des Jahres »scharf geschaltet«, Verstöße also erstmals geahndet werden.

 

»Es muss Konsequenzen haben, wenn nicht genug Beschäftigte da sind, um eine gute Versorgung zu gewährleisten.«

Grit Genster, Gewerkschafterin

Vertreter der Klinikbetreiber sprachen sich vehement gegen geplante Strafzahlungen bei Unterschreitung der Personalvorgaben aus. »Ich habe nichts gegen Sanktionen bei systematischer Unterdeckung«, sagte Stefan Thewes von der LVR-Klinik Langenfeld. Die »Zufälligkeiten« müssten aber beseitigt werden, womit er Schwankungen in der Personalbesetzung meinte. Der Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, Professor Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, sprach von »Baufehlern« der PPP-RL und kritisierte, die geplanten Sanktionen seien deutlich zu hoch gegriffen. Die Richtlinie habe zudem »Verschiebebahnhöfe« geschaffen, bei denen Beschäftigte kurzfristig in Bereichen eingesetzt werden, in denen eine personelle Unterbesetzung droht.

Die Gewerkschafterin Grit Genster betonte hingegen, dass es sich bei den Vorgaben der PPP-RL um Untergrenzen handelt, die eingehalten werden müssten. Auch ver.di halte Strafzahlungen nicht für das richtige Mittel, weil sie die finanziellen Probleme der Kliniken verschärfen und nicht zu einer besseren Versorgung führen würden. »Doch es muss Konsequenzen haben, wenn nicht genug Beschäftigte da sind, um eine gute Versorgung zu gewährleisten.«

 

Krise als Aufforderung zur Veränderung

Genster verwies auf eine kürzlich veröffentlichte ver.di-Erhebung, wonach die Personalausstattung in Privatkliniken noch deutlich schlechter ist als in öffentlichen Einrichtungen. Heike Liebsch von der Organisation EX-IN Sachsen, die Psychiatrieerfahrene zu Genesungsbegleiter*innen ausbildet, bestätigte dies aus eigener Erfahrung. Sie sei in vielen Einrichtungen gewesen, doch nirgendwo habe es so wenige therapeutische Angebote gegeben wie in einer kommerziell betriebenen Klinik. »Ich frage mich, warum Kassen überhaupt eine vollstationäre Behandlung bezahlen, wenn deren therapeutische Versorgung nicht besser ist als im ambulanten Bereich.« Es brauche nicht nur genug, sondern auch gut qualifiziertes Personal, forderte sie. Der Angehörigenvertreter Rüdiger Hannig erklärte, für eine gute Versorgung sei eigentlich eine deutlich höhere Personalausstattung nötig als in der PPP-RL. Doch nicht einmal diese Vorgaben würden eingehalten.

»Die Decke ist insgesamt zu kurz«, stellte Grit Genster fest. »Wir müssen die Bedingungen verbessern, damit sowohl in der stationären als auch der ambulanten Versorgung genug Personal da ist.« Dass das Fachkräftepotenzial dafür vorhanden ist, zeige die Studie »Ich pflege wieder wenn…«. Demnach könnten durch Berufsrückkehrer*innen zwischen 263.000 und 583.000 Vollzeitstellen zusätzlich besetzt werden. Als Voraussetzung nennen die ausgestiegenen Pflegekräfte vor allem: bessere Arbeitsbedingungen.

»Jede Krise ist eine Aufforderung zur Veränderung«, so der Psychiater Arno Deister in seinem Eröffnungsvortrag. Sollten die aktuellen Krisen Veränderungen anstoßen, die in die auf der Tagung diskutierte Richtung gehen, hätten sie tatsächlich einen »Sinn« gehabt.

 

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