Eine gute psychiatrische und psychosoziale Versorgung braucht Kooperation. Diese Feststellung war Ausgangspunkt der Debatten auf der diesjährigen Fachtagung Psychiatrie am 12. Mai 2022 in Berlin. Die Organisator*innen vom Forum für Gesundheitswirtschaft wählten als Motto der Tagung folgerichtig »Netzwerke leben!« Deutlich wurde, dass dieses in der Theorie wohl von allen geteilte Ziel in der Praxis schwer zufriedenstellend zu verwirklichen ist, vor allem wegen des Nebeneinanders unterschiedlicher Finanzierungssysteme.
Der Direktor des Instituts für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern, Professor Ingmar Steinhart, machte in seinem Vortrag klar, dass die Versorgungspraxis weiterhin von der Abgrenzung von Zuständigkeiten nach den Sozialgesetzbüchern geprägt ist. »Zwischen den Sozialgesetzbüchern gibt es schwarze Löcher, es fehlen Überbrückungsnetzwerke«, kritisierte er. Wenn psychisch kranke Menschen von einem Hilfesystem ins andere wechselten, gehe es oft vor allem darum, sie »ganz schnell wieder loszuwerden« und in den nächsten Sektor zu verschieben. Eine leitliniengerechte Versorgung erfordere stattdessen »sozialgesetzbuchsübergreifende Aktivitäten aus einer Hand«, forderte der Wissenschaftler. »Wir brauchen multiprofessionelle Teams, die sektorübergreifende Netzwerke für jede Person im Sozialraum knüpfen.« Der Weg dorthin sei die Etablierung gemeindepsychiatrischer Zentren mit transparenten Standards, wie es im Land Niedersachsen versucht werde.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther betonte ebenfalls, die Hilfesysteme müssten stärker miteinander verzahnt werden. Verbindliche gemeindepsychiatrische Verbünde seien ein Schlüssel dafür. Die Politikerin verwies auf den Koalitionsvertrag, in dem SPD, Grüne und FDP versprochen haben, die ambulante psychotherapeutische Versorgung insbesondere für Patient*innen mit schweren und komplexen Erkrankungen zu verbessern und den Zugang zu ambulanten Komplexleistungen sicherzustellen. »Die Kapazitäten bauen wir bedarfsgerecht, passgenau und stärker koordiniert aus«, heißt es dort weiter. Und: »Im stationären Bereich sorgen wir für eine leitliniengerechte psychotherapeutische Versorgung und eine bedarfsgerechte Personalausstattung. Die psychiatrische Notfall- und Krisenversorgung bauen wir flächendeckend aus.« Um das umzusetzen, seien »konkrete gesetzliche Veränderungen« nötig, erklärte Kappert-Gonther auf Nachfrage. So könnten die für die regionale psychosoziale Versorgung nötigen Rahmenbedingungen geschaffen und Kooperationen »obligat« werden.
Kappert-Gonther, selbst Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, warnte vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen vor einem weiter stark steigenden Versorgungsbedarf. Dabei könne dieser schon jetzt nicht gedeckt werden. Neben dem Klimawandel, der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg identifizierte sie die »Pflegekrise« als vierte große gesellschaftliche Krise. Pflegekräfte verließen wegen der schlechten Arbeitsbedingungen bereits nach durchschnittlich zwölf Jahren ihre Berufe. »Auch das ist eine relevante Krise, der wir uns stellen müssen«, sagte die Bundestagsabgeordnete, ohne an diesem Punkt allerdings konkreter zu werden. Beim Thema Kooperation plädierte sie für eine »konsequente berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit«. Das müsse auch mit einem Kompetenzzuwachs für Pflegepersonen einhergehen: »Die Pflege muss das machen dürfen, wozu sie ausgebildet ist, da gibt es viel zu oft ärztliche Vorbehalte.« Die Tätigkeiten müssten entsprechend neu geordnet werden.
Aus einer anderen Richtung blickten Fenia Wolff und Bernhard Dobbe vom Personalrat des Pfalzklinikums auf die Frage von Netzwerken und Kooperationen. Sie berichteten von einem Modellvorhaben in ihrer Klinik, mit dem die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung intensiv in betriebliche Veränderungen eingebunden werden. »Wir gestalten mit«, sagte die Gesundheits- und Krankenpflegerin Fenia Wolff. Der Personalrat sei in sämtliche (Teil-)Projekte zur Weiterentwicklung der Arbeitsorganisation eingebunden und mit allen Beteiligten in intensiver Kommunikation. Bei Veränderungen sei es stets wichtig, die Beschäftigten mitzunehmen und auf ihre Ängste einzugehen, betonte die Interessenvertreterin.
Am Pfalzklinikum geht es unter anderem darum, stationäre Aufnahmen durch den Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen zu vermeiden. Viele bislang auf den Stationen eingesetzte Pflegekräfte seien grundsätzlich offen dafür, ambulant zu arbeiten, berichtete Wolff. Ein entscheidendes Hindernis sei allerdings, wenn sie wegen veränderter Arbeitszeiten auf Schicht- und andere Zuschläge verzichten müssten. Hier müssten auch die tariflichen Regelungen an die sich wandelnde Versorgungslandschaft angepasst werden.
Der Personalratsvorsitzende Bernhard Dobbe erklärte, dass sich auch das Selbstverständnis der Arbeitnehmervertretung verändern müsse. Die betriebliche Interessenvertretung sei durch die Entwicklungen gefordert, müsse aber auch durch entsprechende Rahmenbedingungen gefördert werden, um auf Augenhöhe mitgestalten zu können. Eine weitere Erkenntnis aus dem Pfalzklinikum: Dessen öffentlich-rechtliche Trägerschaft steht notwendigen Veränderungen nicht entgegen – im Gegenteil. »Es gibt bei uns keine kommerziellen Interessen, das Geld bleibt im System«, so Dobbe. »Die öffentlich-rechtliche Trägerschaft ist sehr geeignet, die Zukunftsaufgaben anzugehen.«
veröffentlich/aktualisiert am 14. Mai 2022