Psychiatrie

Überall Aktionen für »Psych-PV plus«

11.09.2019

Beschäftigte psychiatrischer Einrichtungen im ganzen Land machen deutlich, was sie von Kliniken und Krankenkassen erwarten: verbindliche und bedarfsgerechte Personalvorgaben.

 
Vitos Riedstadt: Mit Plakaten, Luftballons und selbst gebastelten »fehlenden Kollegen« machen sie Passant*innen und Autofahrer auf die zu geringe Personalausstattung aufmerksam.

»Was in der Psychiatrie los ist, geht alle an«, betont der Krankenpfleger Tilman Mergenthaler. »Denn eine psychische Erkrankung kann jeden treffen, das geht quer durch alle gesellschaftlichen Schichten.« Gemeinsam mit etwa 30 seiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Philippshospital steht er am Dienstag (10. September 2019) vor der zu Vitos gehörenden Einrichtung im südhessischen Riedstadt. Mit Plakaten, Luftballons und selbst gebastelten »fehlenden Kollegen« machen sie Passant*innen und Autofahrer auf die zu geringe Personalausstattung aufmerksam – so wie Psychiatrie-Beschäftigte an diesem Tag im ganzen Land.

»Als ich 2012 nach meiner Ausbildung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie angefangen habe, war die Personalausstattung noch etwas besser«, erinnert sich Mergenthaler. Jetzt sei auf seiner Station im Schnitt etwa eine Pflegekraft weniger anwesend als noch vor wenigen Jahren. In der Regel müssen sich drei, oft auch nur zwei Beschäftigte um 15 sehr betreuungsintensive Kinder kümmern. Die Folge: Ausflüge zur Eisdiele oder ins Museum sind nur selten möglich. »Dabei wäre das so wichtig, damit die Kinder mal rauskommen aus der Station. Das reduziert die Eskalationen und ist gut für den Genesungsprozess.« Dass er seinen Schützlingen so etwas fast nie bieten kann, macht den 35-Jährigen unzufrieden. Das treibt ihn auf die Straße.

Seiner Kollegin Christine Kohl geht es ähnlich. Seit 27 Jahren ist sie im Philippshospital als Sozialarbeiterin tätig. In dieser Zeit hätten sich die Bedingungen drastisch verändert – sowohl in der Gesellschaft als auch in den Kliniken. »Die Verweildauer hat sich deutlich verkürzt, zugleich nehmen die sozialen Probleme zu – zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt. Das macht auf uns Sozialarbeiter einen enormen Druck«, erklärt die 55-Jährige. Um die Nachsorge gut zu regeln, brauche es oft viel mehr Zeit als zur Verfügung stehe.

 

»Psych-PV plus« statt »Psych-PV minus«

Bei der neuen Personalbemessung für die Psychiatrie, die Kliniken und Krankenkassen am 19. September im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beschließen wollen, sieht die Sozialarbeiterin großen Handlungsbedarf. »Die bisherige Psychiatrie-Personalverordnung, die Psych-PV, ist uralt. Sie muss dringend weiterentwickelt und an den heutigen Bedarf angepasst werden.« Angesichts der bisher bekannt gewordenen Pläne des G-BA sieht die Gewerkschafterin allerdings die Gefahr, dass das Gremium statt der von ver.di geforderten »Psych-PV plus« eine »Psych-PV minus« beschließen könnte.

Davor warnt auch die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende am Philippshospital, Gisela Maronn. Sie verweist auf die Ergebnisse des »Versorgungsbarometers« – eine von ver.di organisierte Befragung, an der sich zwischen Juli und August 2019 insgesamt 2.329 Beschäftigte aus 168 psychiatrischen Einrichtungen beteiligt hatten. Diese belegt nicht nur die extrem hohe Belastung, sondern auch den Zusammenhang von Personalnot und Gewalt gegen Beschäftigte bzw. Zwangsmaßnahmen gegenüber Patientinnen und Patienten. So erklären über 60 Prozent der Befragten, dass »ungefähr die Hälfte« oder »fast alle« Zwangsmaßnahmen mit einer besseren Personalausstattung vermeidbar gewesen wären.

Die psychiatrische Fachkrankenschwester Maronn bestätigt das: »Man könnte vieles vermeiden – nicht alles, aber viel – wenn genug Personal da wäre.« Von der neuen Personalverordnung verlangt sie vor allem, dass diese verbindlich wirkt und deren Einhaltung kontrolliert wird. »Wir brauchen Regeln, die nachprüfbar sind. Das ist für mich die zentrale Erfahrung aus der bisherigen Psych-PV.«

 
Vor Verschlechterungen in der psychiatrischen Versorgung warnte auch die Arbeitsgemeinschaft der Gesamtpersonal- und Betriebsräte bei den Bayerischen Bezirken (AGBB).

Behandlungsqualität und Arbeitsbedingungen hängen zusammen

Verbindliche und bedarfsgerechte Personalstandards – für diese Forderung machten am 10. September auch dutzende weitere Belegschaften im ganzen Bundesgebiet mobil. In Baden-Württemberg fanden in den neun Zentren für Psychiatrie (ZfP) ebenso Aktionen statt wie am Zentrum für seelische Gesundheit in Stuttgart und an den Unikliniken. Am ZfP Emmendingen, wo in der Mittagszeit rund 70 Beschäftigte protestierten, betonte der Personalratsvorsitzende Horst Burkhart: »Die Qualität der Behandlung des Patienten und die Arbeitsbedingungen hängen direkt miteinander zusammen.« Eine bessere Personalausstattung sei daher sowohl im Interesse der Patient*innen und der Beschäftigten als auch der Gesellschaft als Ganzes.

An der Rheinhessen-Fachklinik im rheinland-pfälzischen Alzey gingen gut 70 Kolleginnen und Kollegen für mehr Personal auf die Straße. An dem kleinen Krankenhaus Angermünde in der Uckermark beteiligten sich knapp 30 Beschäftige aus allen Berufsgruppen. Die Essensausgabe auf den Stationen wurde in dieser Zeit von den Ärztinnen und Ärzten übernommen, die damit ihre Solidarität ausdrückten. Im Bezirkskrankenhaus Bayreuth nahmen über 100 Beschäftigte zum Schichtwechsel an einer Kundgebung teil. Am Stuttgarter Furtbachkrankenhaus waren es etwa 30. An der LVR-Klinik Bonn und am medbo Bezirksklinikum Regensburg informierten ver.di-Aktive ihre Kolleginnen und Kollegen bei Infoständen über die bevorstehende Entscheidung des G-BA. Bei der Sozialstiftung Bamberg verteilten sie zusätzlich zu den Informationsblättern Äpfel an die Beschäftigten, in Bayreuth gab es »ein Eis für die Psych-PV plus«. Auch am Klinikum Braunschweig, am AWO-Psychiatriezentrum Königslutter und in etlichen weiteren Einrichtungen machten die Beschäftigten deutlich, was sie vom G-BA und von den politisch Verantwortlichen erwarten: Genug Personal für eine menschenwürdige Psychiatrie.

Vor Verschlechterungen in der psychiatrischen Versorgung warnte am Dienstag auch die Arbeitsgemeinschaft der Gesamtpersonal- und Betriebsräte bei den Bayerischen Bezirken (AGBB), die rund 20.000 Beschäftigte in über 40 Fachkrankenhäusern, Fachabteilungen und Tageskliniken des Freistaats vertritt. »Nach allem, was bisher durchgesickert ist, droht bei der Personalausstattung durch das neue Regelwerk tatsächlich eine Verschlechterung statt der notwendigen Verbesserung«, kritisierte der AGBB-Sprecher Bruno Lehmeier. »Eine Personalaufstockung ist dringend geboten, sei es, um die heutigen Anforderungen an eine bedarfsgerechte Patientenversorgung zu erfüllen, aber auch, um erträgliche Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten garantieren und die enormen Belastungen senken zu können.«

Es bleibt zu hoffen, dass Krankenkassen und Kliniken dieses sehr deutliche Signal der Beschäftigten wahrnehmen und bei ihrer Entscheidung am 19. September berücksichtigen.

 

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