Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in dem Kliniken und Krankenkassen den Ton angeben, hat das volle Inkrafttreten der Personalvorgaben für die Psychiatrie, kurz PPP-RL, erneut verschoben. Auch Sanktionen bei Unterschreitung sollen statt 2024 erst 2026 kommen. Wie bewertet ihr das?
Udo Haas: Ich weiß nicht, zum wievielten Mal der G-BA die PPP-RL nun auf die lange Bank geschoben hat. Das ist, als könnte man über rote Ampeln fahren und würde dafür in einem »Übergangszeitraum« keine Strafzettel bekommen. Und dieser Zeitraum würde über viele Jahre immer weiter verlängert. Absurd!
Christof Liertz: Mal wird die Verschiebung mit Corona begründet, mal mit dem Fachkräftemangel. Als die PPP-RL 2020 eingeführt wurde, haben wir begrüßt, dass es anders als in der alten Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) Sanktionen geben sollte, wenn sich die Einrichtungen nicht daran halten. Die Beschäftigten hatten die Hoffnung, dass sich dadurch etwas verbessert. Aber das passiert nicht. Die Folge ist, dass etliche den Beruf verlassen oder ihre Arbeitszeit reduzieren, weil sie es nicht mehr aushalten. Das Problem des Fachkräftemangels wird dadurch noch größer – ein Teufelskreis. Die Personalvorgaben sind Mindeststandards. Sie müssen endlich voll und verbindlich gelten.
Was bedeutet es für die Patient*innen, wenn sie unterschritten werden?
Christof Liertz: Dann sinkt die Behandlungsqualität. Therapien können nicht angeboten werden und vieles mehr. Es fehlt die Zeit für Heimbesuche und für die Arbeit mit den Eltern bzw. dem Umfeld. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute erneut stationär behandelt werden müssen – Drehtürpsychiatrie! Auch das ist ein Teufelskreis: Wenn die Patient*innen immer wieder kommen, steigt die Zahl der Fälle und damit die Belastung und damit die Berufsflucht. Und so weiter.
Udo Haas: Auch die Gewalt und der Einsatz von Psychopharmaka nehmen zu, wenn nicht genug Personal da ist. Wenn man auf die Menschen eingehen, sie in brenzligen Situationen mal rausnehmen kann, kommt es seltener zu Übergriffen. Eine menschenwürdige Psychiatrie gibt es nur mit genug Personal.
Was muss passieren?
Udo Haas: Wenn der G-BA seiner Verantwortung nicht gerecht wird, muss die Regierung handeln und dafür sorgen, dass die PPP-RL endlich verbindlich und zu 100 Prozent eingehalten wird. Laut der diesjährigen ver.di-Befragung werden die Vorgaben aber nur zu durchschnittlich 77 Prozent erfüllt. In kommerziellen Einrichtungen sogar nur zu 69 Prozent. Letztere schöpfen auf Kosten der Patient*innen und Beschäftigten Gewinne ab. So etwas hat im Gesundheitswesen nichts zu suchen!
Christof Liertz: Ein Problem sind auch die Verschiebebahnhöfe: Die PPP-RL muss nur quartalsweise und im Durchschnitt eingehalten werden. Um das auf dem Papier zu schaffen, werden Beschäftigte zwischen den Stationen hin und hergeschoben. Das ist absolut kontraproduktiv. Denn in der Psychiatrie ist Beziehungsarbeit entscheidend. Wie will man Beziehungen aufbauen, wenn man nie weiß, auf welcher Station man am nächsten Tag eingesetzt wird? Das ist auch schädlich für die Zusammenarbeit in den multiprofessionellen Teams, die in der Psychiatrie ganz zentral ist. Durch das hin und her geht jede Konstanz verloren.
Der Fachkräftemangel ist aber doch ein reales Problem.
Christof Liertz: Natürlich! Aber dem können wir nur mit besseren Arbeitsbedingungen begegnen. Wenn die Personalvorgaben voll erfüllt werden, würde die Arbeitszufriedenheit steigen. Die Studie »Ich pflege wieder, wenn…« zeigt, dass etliche Kolleginnen und Kollegen bei besseren Bedingungen in ihren Beruf zurückkehren würden. Und das gilt nicht nur für die Pflege. Alle Berufsgruppen sind enorm belastet. Die Erfüllung der PPP-RL ist das Minimum, was wir brauchen.
Udo Haas: Ja. Und auch das wäre noch nicht bedarfsgerecht. Die PPP-RL bildet längst nicht mehr das ab, was für eine gute Versorgung nötig wäre. Sie müsste weiterentwickelt werden. Wenigstens aber sollte sie zu 100 Prozent eingehalten werden. Wenn nicht, muss es Sanktionen geben. Am besten wäre es, wenn in diesem Fall nicht Geld abgezogen wird, sondern die Leistungen reduziert und Betten gesperrt werden. Das ist auch im Interesse der Patient*innen, die eine gute Versorgung, ein gutes therapeutisches Angebot und individuelle Unterstützung brauchen. Angesichts der vielen Krisen nehmen psychische Erkrankungen massiv zu. Wir brauchen – wie zuletzt in den 1970ern – eine breite gesellschaftliche und politische Debatte über das Thema.