Der 1975 veröffentlichte Bericht der Enquêtekommission zur Lage der Psychiatrie in der BRD kam zu einer insgesamt erschütternden Bilanz. Nicht umsonst werden zu ihrer Beschreibung meist zwei Begriffe aus dem Zwischenbericht von 1973 zitiert, der von „elenden“ und „zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen“ in den Krankenhäusern spricht.
Doch nicht nur die Kliniken spiegelten auch im internationalen Vergleich ein katastrophales Niveau. Die Versorgung durch niedergelassene Fachärzte, die psychotherapeutische Rehabilitation (ins besondere betreute Wohn- und Arbeitsformen) waren ebenso unzureichend oder oft gar nicht vorhanden. Dasselbe galt für die psychotherapeutische Versorgung. Eine besondere Schwierigkeit bei der Sachstandserhebung bestand darin, dass die psychiatrische Versorgung als Ländersache sowohl von ihren Strukturen als auch den inhaltlichen Standards her eine unterschiedliche Qualität aufwies, ganz abgesehen von dem überall vorhandenen Gefälle zwischen Stadt und Land.
Die Kernforderungen
• Bedarfsgerechte und gemeindenahe Versorgung
• Gleichstellung von seelisch und körperlich Kranken
waren dann Grundlage für ein vom Bund finanziertes Modell - Programm, dessen Ergebnisse zu den „Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich“ (1988) führten. An der Zuständigkeit der Länder änderte sich nichts. Auch an eine flächendeckende Umsetzung mit konsequenter Abteilungspsychiatrie an Allgemeinkrankenhäusern, gleichen Standards in der Rehabilitation oder einer ernsthaften Integration psychisch Behinderter in die Arbeitswelt war zu dieser Zeit schon nicht mehr zu denken. Die Reformphase war vorbei.
Rückzugsgefechte
Was dann noch kam, waren – mehr oder weniger – Rückzugsgefechte oder Trostpflaster. So wurde die Personalaufstockung in den Kliniken durch die Personalverordnung Psychiatrie (PsychPV 1992), die auch der Öffnung und Ambulantisierung dienen sollte, schon bald durch die Deckelung wieder aufgesogen. Die Soziotherapie blieb eine absolute Rarität, die ambulante Pflege brauchte Jahrzehnte um sich – bei weiter unbefriedigenden Bedingungen – überhaupt bemerkbar zu machen. Die Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke (RPK) blieben in puncto Arbeitsintegration ein Tropfen auf den heißen Stein. Zweifellos gab es eine deutliche Verbesserung der räumlichen Verhältnisse in den Kliniken. Der Bettenabbau in der Langzeitpsychiatrie der Kliniken wurde jedoch durch zusätzliche stationäre Heimplätze, aber auch durch eine Verdopplung der Plätze im Maßregelvollzug mehr als kompensiert.
Privatisierungswelle
Die tatsächlich ab 1998 in Folge des Psychotherapeutengesetzes auftauchenden Psychotherapeuten entwickelten ihr Angebot meist losgelöst vom psychiatrischen Hilfesystem. Der Sozialpsychiatrische Verbund mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst als Geschäftsführung das vielbeschworene Instrument der Steuerung und Koordination blieb ein zahnloser Tiger, abhängig vom Engagement Einzelner. Die letzten Versuche, eine am Lebensalltag psychisch Kranker orientierte integrierte Versorgung einzurichten, wurden durch die nun auch die Psychiatrie erreichende Privatisierungswelle der Kliniken vielerorts ausgebremst.
Der gesamtgesellschaftliche Trend des Neoliberalismus macht keinen Bogen um die Psychiatrie. Inzwischen tummeln sich neben den Klinikkonzernen diverse andere Player auf dem Markt der seelischen Gesundheit, von der Pharmaindustrie bis zu psychotherapeutischen Verfahren (zum Beispiel DBT) – die Umsetzung inhaltlicher Ziele, mit denen nicht gleichzeitig Geld verdient werden kann, ist deutlich schwieriger geworden.
Insofern wundert man sich, dass die Entwicklung nicht völlig zum Erliegen gekommen ist. Aktuell sind es besonders rechtliche Einflüsse – von der UN-Behindertenrechts-konvention (UN-BRK 2009) bis zu den Urteilen von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof von 2013 zur Zwangsbehandlung – die eine spürbare Verunsicherung mit sich bringen. Auch die EX-IN-Kurse in logischer Fortsetzung von TRIALOG und Psychose-Seminar verändern mit der Stärkung der Rolle der Psychiatrie-Erfahrenen in kleinen Schritten das Klima.
Die S3-Leitlinien zur „Psychosozialen Therapie bei schweren psychischen Erkrankungen“ (DGPPN 2013) gehören von ihrem Veränderungspotential her zu den Meilensteinen einer bescheiden gewordenen Sozialpsychiatrie. Und mit den Regionalbudgets in Schleswig-Holstein gibt es sogar ein Gegenmodell zu den drohenden Pauschalen des neuen Entgeltsystems (PEPP). Es gibt also genug Themen, bei denen engagierte Kompetenz aus dem psychiatrischen Feld dringend benötigt wird. Die Anregungen, wie Psychiatrie menschenwürdiger und hilfreicher sein kann, müssen wir uns leider immer noch im Ausland holen (zum Beispiel Hometreatment in Skandinavien). Wenn einen aber der Mut verlässt, dass sich dieses reiche Land endlich auch für seine psychisch kranken Bürger einsetzt, dann schaue man 40 Jahre zurück!
Mut zum Weiterdenken
Seit den elenden und zum Teil menschenunwürdigen Verhältnissen ist viel Gutes geschehen und Nachhaltiges entstanden. Viele gewerkschaftlich engagierte Kolleginnen und Kollegen waren daran wesentlich beteiligt. Sie werden auch weiterhin dringend gebraucht. Dabei stehen die Arbeitsbedingungen unter privatisierten Verhältnissen bei verstärkter Ambulantisierung im Vordergrund. Der gesellschaftlichen Forderung nach einer menschenwürdigen und verlässlichen psychiatrischen Hilfe in Wohnortnähe werden wir nur unter erheblichem Aufwand im Sinne verstärkter Qualifizierung und flexibler Strukturen gerecht werden können. 40 Jahre nach der Aufbruchstimmung der Psychiatrie-Enquête sind wieder Mitarbeiter gefragt, die den Mut haben, die Versorgungswirklichkeit weiter zu denken. Team-Player aus allen psychiatrischen Berufsgruppen mit Spaß an der Begegnung mit ungewöhnlichen Menschen finden in der Psychiatrie ein Feld sinnvoller Betätigung, mindestens für weitere 40 Jahre garantiert…
Dr. med. Sebastian Stierl, Ärztlicher Direktor Psychiatrische Klinik Lüneburg
Psychiatrie, Servicebetriebe
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