Am Anfang war Suri Vöhl allein. Als einzige in der Wicker-Klinik Reinhardshausen im hessischen Bad Wildungen setzte sich sie für einen Tarifvertrag ein. »Ich habe einfach angefangen«, blickt die Anästhesie-Fachpflegerin auf die Zeit Ende vergangenen Jahres zurück. »Zuerst hatte ich Angst, offensiv für die Gewerkschaft zu werben, aber dann habe ich mir gesagt: Das ist mein gutes Recht.« Sie nutzte jeden freien Moment, um mit ihren Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen. Das hat etwas bewirkt. Wenige Monate später ist Suri Vöhl nicht mehr allein. Die Zahl der ver.di-Mitglieder ist von acht auf fast 250 hochgeschnellt, 30 von ihnen übernehmen als Tarifbotschafter*innen Verantwortung, sprechen andere Kolleginnen und Kollegen auf die Gewerkschaft an.
Acht Warnstreiktage haben die Beschäftigten in Bad Wildungen und den zehn anderen Wicker-Kliniken bis Mitte Juni auf die Beine gestellt – und damit einen ersten Erfolg erzielt: Nachdem sich das Familienunternehmen zunächst vehement dagegen sträubte, hat es nun Tarifverhandlungen mit ver.di zugesagt. Sie sollen am 18. Juni beginnen (nach Redaktionsschluss). »Als das klar war, ist mir ein Brocken von den Schultern gefallen«, berichtet Suri Vöhl. Vor Freude hatte sie Tränen in den Augen. »Endlich bewegt sich was. Das ist vor allem für die Kolleginnen in Küche, Service, Hauswirtschaft und anderen Bereichen wichtig, die bislang kaum mehr als den gesetzlichen Mindestlohn bekommen.« Jahrelang richtete sich die Bezahlung nach einer Betriebsvereinbarung, die ein Lohnniveau von bis zu 30 Prozent unter dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) festschrieb. Bei einem Trauerzug durch den Kurpark in Bad Zwesten trugen die Beschäftigten die Vereinbarung Anfang Juni symbolisch zu Grabe.
»Wir haben etliche solcher Aktionen auf die Beine gestellt, die viel Spaß gemacht haben«, berichtet Astrid Engler, die in dem nordhessischen Städtchen in der Wicker-Hardtwaldklinik als Musiktherapeutin arbeitet. »Wir haben getanzt und gesungen, kämpferisch und friedlich – das Lachen immer auf unserer Seite.« Mit vielen kleinen Aktionen bauten die Wicker-Belegschaften Stärke auf. Über alle Häuser hinweg verdreifachte sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad.
Die Warnstreiks waren entsprechend effektvoll: In der Wirbelsäulenklinik Reinhardshausen blieb nur einer von fünf OP-Sälen für Notfälle in Betrieb, was das Unternehmen viel Geld kostete. In den Reha-Einrichtungen fand zum Teil keine einzige Therapie statt, wurden Aufnahmestopps verhängt. Patient*innen hängten Laken mit Solidaritätsbekundungen aus den Fenstern und beschwerten sich bei den Kostenträgern, die auf Wicker Druck ausübten.
Druck kommt auch aus der Bevölkerung. Mit einer täglichen Mahnwache, vielen öffentlichen Aktionen und Medienberichten machten die Streikenden auf ihre Anliegen aufmerksam. Solidarisch zeigten sich unter anderem der Betriebsrat und IG-Metall-Vertrauenskörper im Kasseler VW-Werk, einem der größten Arbeitgeber der Region. »Wir fordern die Verantwortlichen von Wicker auf, ihrer sozialen Verantwortung als Arbeitgeber nachzukommen und faire Löhne und Arbeitsbedingungen für alle Mitarbeiter zu gewährleisten«, heißt es in ihrer Resolution.
»Es war spürbar, dass der Druck auf die Geschäftsführung steigt«, berichtet Astrid Engler. »Dennoch fühlt es sich etwas unwirklich an, dass es jetzt tatsächlich Tarifverhandlungen geben soll.« Sollte sich Wicker dabei nicht bewegen, wollen die Kolleg*innen weiter machen. »Wir haben jetzt die Power und wissen, wie es geht«, betont die Musiktherapeutin. Und: »Wir haben noch viele Protest-Ideen, unser Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft.«
Hier gibt es Videos vom Streik bei Wicker.
Pressemitteilung ver.di Hessen vom 11. Juli 2024. Der Konflikt um einen Tarifvertrag bei den Wicker-Kliniken in Nordhessen ist beigelegt. ver.di und die die Geschäftsführung haben sich darauf geeinigt, die Gehälter der Beschäftigten schrittweise an den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, TvöD, anzunähern. Außerdem vereinbarten sie Gehaltssteigerungen und eine Inflationsausgleichsprämie. Bis zum Ende des Jahres erhalten alle 3.000 nichtärztlichen Beschäftigten in den Kliniken insgesamt bis zu 3.000 Euro Inflationsausgleich (Teilzeitbeschäftigte erhalten wie üblich anteilig). Für die Rehasparte gibt es darüber hinaus ab Februar 2025 durchschnittlich 7,8 Prozent mehr Geld. Hier waren die Gehälter sehr weit entfernt vom TvöD. Zusätzlich gibt es für alle, Reha- und Akutkliniken, von Februar 2025 an zwei Prozent mehr Geld, ab November 2025 nochmal zwei Prozent. Der Tarifvertrag läuft bis Ende 2025.
ver.di-Verhandlungsführer Stefan Röhrhoff ist zufrieden mit dem Ergebnis, das die höchste Lohnerhöhung seit Bestehen der Wicker-Gruppe darstellt: »Dies ist ein erster Schritt zur besseren Bezahlung. Wir haben jetzt eine gute Grundlage für die weiteren Verhandlungen.« Ausdrücklich positiv hebt Röhrhoff die Stimmung bei den Verhandlungen hervor: »Obwohl wir schwierig gestartet sind, ist es uns bei den Verhandlungen gelungen, ein vertrauensvolles Klima herzustellen und Verständnis füreinander zu entwickeln.« Bereits im Herbst dieses Jahres soll es weitergehen. Dann beginnen die Verhandlungen darüber, wie die Annäherung an den TvöD ausgestaltet werden soll.
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