Oft werden sie nicht ausreichend wahrgenommen, an diesem Donnerstag (5. Mai 2022) sind sie nicht zu übersehen: Der historische Marktplatz in Marburg ist voll von Beschäftigten aus Einrichtungen der Behindertenhilfe. Aus ganz Hessen sind sie zum Streik- und Aktionstag in die Universitätsstadt gereist, um ihren Unmut über die harte Haltung der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) in den Tarifverhandlungen des Sozial- und Erziehungsdienstes kundzutun. »Rote Karte für VKA-Blockade« steht auf den roten Pappkarten, die die Streikenden in die Höhe strecken. Bisher hätten die Arbeitgeber am Verhandlungstisch keinerlei Entgegenkommen gezeigt, kritisiert ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. »Deshalb ist es gut, dass ihr ein deutliches Zeichen setzt. Die Arbeitgeber müssen spüren, wie ernst es uns ist.«
»Wir sind auf jeden Fall bereit, weiter auf die Straße zu gehen, damit sich die Bedingungen endlich verbessern«, stellt Sebastian Förster aus Kassel klar. Der Sozialarbeiter und seine Kolleg*innen vom Emstaler Verein haben schon jetzt einiges erreicht. Bis vor wenigen Wochen hatten die gut 100 Beschäftigten keinen Tarifvertrag, die Arbeitsbedingungen wurden individuell per Arbeitsvertrag geregelt. Seit dem 1. März wird der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) angewendet, was manchen Beschäftigten jährlich einen vierstelligen Eurobetrag mehr beschert. »Wir haben über zwei Jahre hinweg jede Gelegenheit genutzt, die Leute aufzuklären und zu organisieren«, berichtet Förster. Mittlerweile ist etwa jede*r zweite Beschäftigte ver.di-Mitglied. Eine ganze Reihe von ihnen ist nach Marburg mitgekommen – ihr erster Streik überhaupt. »Es fühlt sich großartig an, Teil dieser Bewegung zu sein.«
Mit dabei sind auch Beschäftigte aus Assistenzbetrieben, wie Henning Meumann von der CeBeeF Assistenz und Pflege GmbH in Frankfurt am Main. »Wir verbinden Sozialarbeit, psychologische Arbeit und Pflege. Das ist eine große Herausforderung, die auch finanziell gewürdigt und im Tarifvertrag entsprechend eingruppiert werden muss«, betont er. »Die Persönliche Assistenz muss eine Arbeit sein, von der man auf Dauer seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Das ist kein Studentenjob.«
Obwohl viele Assistenzbetriebe nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sind, erhoffen sich auch deren Beschäftigte Verbesserungen. »Auch wir würden von einer guten Eingruppierung der Persönlichen Assistenz im TVöD profitieren«, erklärt Elena Müller, die beim Marburger Verein zur Förderung der Inklusion behinderter Menschen (fib e.V.) arbeitet, wo ver.di ebenfalls einen Tarifvertrag anstrebt. Menschen mit Einschränkungen müsse ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden, die damit einhergehende Ambulantisierung dürfe aber nicht zu mehr prekärer Beschäftigung führen, betont Müller. »Deshalb unterstützen wir die Streikenden und hoffen, dass auch wir demnächst mitstreiken können.«
Der Erzieherin Sandra Weiershäuser-Kullick hat früher in einer Kita und dann in einem Kinderheim gearbeitet, jetzt sorgt sie für Menschen mit Einschränkungen im betreuten Wohnen. »Mit Menschen zu arbeiten, macht mir großen Spaß«, sagt sie. »Aber es braucht mehr Wertschätzung, und die erfolgt auch über das Gehalt.« Vor allem aber geht es der Erzieherin um bessere Arbeitsbedingungen. »Das Klientel wird immer schwieriger, die Menschen brauchen mehr Unterstützung, auch die Gewaltbereitschaft nimmt zu«, berichtet sie. »Wir brauchen mehr qualifiziertes Personal. Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen – das gilt aber nicht nur für die Klientinnen und Klienten, sondern auch für die Angestellten.«
Dass gute Arbeitsbedingungen und gelingende Inklusion zusammengehören, machen Beschäftigte am »Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen« auch in vielen anderen Städten deutlich. In Hannover ziehen etwa 150 Streikende durch die Innenstadt zum Sitz des Kommunalen Arbeitgeberverbands, dem sie »goldene Turnschuhe« überreichen. Ihre Botschaft: Die Arbeitgeber sollen bei den Tarifverhandlungen endlich Tempo machen. Auch in München, Ingolstadt, Nürnberg, Hamburg, Köln und vielen anderen Städten gehen Beschäftigte aus Behinderteneinrichtungen auf die Straße. In Würzburg erklärt die Sozialpädagogin Margit Schmidt vom Blindeninstitut: »Das Bundesteilhabegesetz soll Menschen mit Behinderungen zu mehr Teilhabe und individueller Selbstbestimmung verhelfen. Unter den gegebenen Umständen fehlt dafür jedoch an allen Enden das nötige Personal.« Was es für sie bedeutet, wenn es in den Einrichtungen und Wohngruppen an Personal fehlt, machen fast 100 Menschen mit Behinderung aus der Bentheim-Werkstatt des Blindeninstituts deutlich, die sich der Kundgebung in Würzburg angeschlossen haben.
In Marburg steht Sylvia Bühler auf der Kundgebungsbühne vor dem altehrwürdigen Rathaus. »Gute Soziale Arbeit zu leisten und sich selbst für gute Arbeitsbedingungen einzusetzen – das gehört zusammen«, ruft die Gewerkschafterin den Streikenden zu. Die Tarifaktionen seien »ein Akt der Emanzipation und der Professionalisierung«, mit denen sich die Beschäftigten der Behindertenhilfe Respekt verschafften. »Ihr tragt dazu bei, dass es in der Gesellschaft humaner und gerechter zugeht. Ihr leistet eine hochkomplexe und professionelle Arbeit – dafür habt ihr Anerkennung verdient. Aufwertung jetzt!«
Konkret fordere ver.di unter anderem eine Vergütung der praxisorientierten Ausbildung zum/zur Heilerziehungspfleger*in, eine angemessene Entlohnung von Praxisanleitung, einen Anspruch auf Weiterqualifizierung von Hilfskräften sowie zusätzliche freie Tage als Ausgleich für Belastungssituationen. Ein zentrales Ziel für die Behindertenhilfe sei zudem, die Heimzulage zu erhöhen und auf alle Wohnformen auszuweiten. Um diese Forderungen durchzusetzen, müssten sich noch mehr Kolleg*innen an den Warnstreiks und Demonstrationen beteiligen, so Bühler. Allein in dieser Woche nahmen an den Branchen-Aktionstagen der Sozialarbeit, der Kitas und der Behindertenhilfe insgesamt mehr als 30.000 Beschäftigte teil. Falls die kommunalen Arbeitgeber auch bei der nächsten Verhandlungsrunde am 16. und 17. Mai in Potsdam kein Entgegenkommen zeigen, könnten es bald noch mehr werden.
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