Ein Marathonlauf

Kasseler Konferenz: ver.di hat in der Sozialen Arbeit einiges erreicht. Doch besonders bei den Arbeitsbedingungen liegt weiterhin vieles im Argen.
20.11.2023

Betriebspolitisch, fachpolitisch und tarifpolitisch – auf all diesen Feldern streiten die in ver.di organisierten Beschäftigten für eine angemessene Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit. Das stellte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle zu Beginn der 17. »Kasseler Konferenz« fest, die am Freitag und Samstag (17./18. November 2023) ausnahmsweise in Berlin stattfand. Bei dieser Tagung kommen alljährlich gewerkschaftlich aktive Kolleg*innen aus vielen Bereichen der Sozialen Arbeit zusammen, um sich fachbereichsübergreifend auszutauschen. Sie arbeiten zum Beispiel bei Jugendämtern, den Hilfen zur Erziehung, der Behindertenhilfe, den Kindertageseinrichtungen und Ganztagsangeboten für Schulkinder – sowohl bei kommunalen als auch freigemeinnützigen Trägern.

 
120 Beschäftigte aus der Sozialen Arbeit debattieren bei der 17. Kasseler Konferenz in Berlin.

Behle konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Tarifpolitik. Bei den Verhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst 2022 habe ver.di unter anderem für viele Beschäftigte neue Zulagen und zwei Regenerationstage für alle durchgesetzt. Neben diesen unmittelbaren Errungenschaften sieht die Gewerkschafterin in den Tarifbewegungen – 2022 war nach 2009 und 2015 die dritte »Aufwertungsrunde« im Sozial- und Erziehungsdienst – einen weiteren Vorteil: »Sie verschaffen der Branche Sichtbarkeit und öffentliche Aufmerksamkeit.« Auch der Beteiligung an den allgemeinen Tarifrunden des öffentlichen Dienstes tun die Extra-Runden im Sozial- und Erziehungsdienst offenbar keinen Abbruch – im Gegenteil. Die Berufsgruppen seien auch bei den Warnstreiks in Bund und Kommunen im Frühjahr dieses Jahres sehr sichtbar gewesen, lobte Behle. Mit Lohnerhöhungen von durchschnittlich 11,5 Prozent habe ver.di so »den besten Tarifabschluss in der Fläche in diesem Jahr« erreicht.

Harte Länder-Tarifrunde

In der aktuellen Länder-Tarifrunde habe ver.di bewusst dieselbe Forderung aufgestellt wie im Frühjahr: 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. »Das ist ein klares Signal: Die Länderbeschäftigten wollen mindestens das, was bei Bund und Kommunen erreicht wurde.« Das ist allerdings kein Selbstläufer. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) hat bislang kein Angebot vorgelegt, weshalb ver.di die Warnstreiks ausweitet. Auch die Forderung nach einer Zulage in den Stadtstaaten lehnt die TdL bislang kategorisch ab. Es könne nicht angehen, dass Beschäftigte in Kitas und Sozialeinrichtungen in Hamburg oder Berlin monatlich hunderte Euro weniger verdienten als im Umland, sagte Behle. »Das beizubehalten, wäre fatal und würde zu einer weiteren Abwanderung von Fachkräften führen.«

 
Die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle betont: »Aufwertung ist ein Marathonlauf.«

Ebenfalls zurückgewiesen wird von der TdL die Forderung, die im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst erreichten Verbesserungen auf den Länder-Tarifvertrag (TV-L) zu übertragen. Das betrifft nicht nur die Berliner Kitas, wo der TV-L gilt, sondern auch Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen an Schulen, Hochschulen und anderen Landeseinrichtungen. Die Beteiligung an den Warnstreiks im Landesdienst liege vielfach über den Erwartungen, berichtete Behle. »Und das ist auch gut so, denn nur wenn die Beschäftigten bereit sind, für bessere Bedingungen zu kämpfen, wird es einen guten Tarifabschluss geben.« Ob die laufenden Aktionen die Arbeitgeber zum Einlenken bewegen, wird sich ab dem 7. Dezember zeigen. Dann werden die Verhandlungen in Potsdam fortgesetzt.

Belastungen sind massiv gestiegen

Für die finanzielle Aufwertung des Sozial- und Erziehungsdienstes will sich ver.di in den kommenden Jahren weiter engagieren, versprach Behle. »Das ist ein Marathonlauf, aber wir sind schon einen Riesen-Schritt gegangen.« Keine Verbesserung gibt es allerdings bei den Arbeitsbedingungen – im Gegenteil. Die Belastungen haben in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich zugenommen, wie Professor Nikolaus Meyer von der Hochschule Fulda mit Verweis auf die Ergebnisse einer Befragung von mehr als 8.000 Beschäftigten deutlich machte. Demnach haben sich die Arbeitsabläufe und professionellen Standards mit Ausbruch der Corona-Pandemie stark verändert – und sind seither nicht wieder auf das vorpandemische Niveau zurückgekehrt. So sei zum Beispiel die Kommunikation sowohl unter den Beschäftigten als auch mit Adressat*innen digitaler und insgesamt geringer geworden. »Das in einem Bereich, der vom persönlichen Austausch lebt.«

 
Professor Nikolaus Meyer von der Hochschule Fulda berichtet darüber, dass sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert haben.

Vor allem aber haben sich die Arbeitsbedingungen laut Befragung massiv verschlechtert. In allen Bereichen haben Zahl und Komplexität der Fälle zugenommen, doch mehr Personal gibt es nicht. In der Folge verdoppelte sich der Anteil derjenigen, die ihre Ansprüche an die eigene Arbeit im Alltag nicht verwirklichen können, nahezu, auf über 62 Prozent. Dies ist eine Ursache dafür, dass 77 Prozent nicht bis zur Rente in der Branche tätig sein wollen. »Angesichts des Fachkräfteproblems ein alarmierender Wert«, betonte Meyer. Arbeitsverdichtung, Überstunden und der Wegfall von Pausen führten auch dazu, dass sich die Berichte über Konflikten mit Adressat*innen oder Angehörigen mehr als verdoppelten. Über 60 Prozent der Befragten berichten, dass sie häufig oder sehr häufig an der Belastungsgrenze arbeiten. Fast die Hälfte kommt häufig krank zur Arbeit. Meyers Schlussfolgerung: »Das System bricht nur deshalb nicht zusammen, weil Beschäftigte über ihre Grenzen gehen und so dazu beitragen, dass es irgendwie weitergeht.«

Auf betrieblicher Ebene Grenzen setzen

Wie die Gewerkschaft dem begegnen will, zeigte Elke Alsago aus der ver.di-Bundesverwaltung exemplarisch an der Kampagne »SOS Kita«. »Wir müssen auch auf betrieblicher Ebene Druck aufbauen und Grenzen setzen, um deutlich zu machen: So geht es nicht weiter«, erklärte sie und betonte, dass die Träger durch den Betreuungsvertrag mit den Eltern die Verantwortung für das Angebot in der Kita tragen – nicht die Beschäftigten. Deshalb müssten sie für Bedingungen sorgen, die den gesetzlichen Anspruch, »Erziehung, Bildung und Betreuung« in den Kitas zu gewährleisten, erfüllbar machen. Das sei derzeit meist nicht der Fall.

 
Elke Alsago: »Auf betrieblicher Ebene Grenzen setzen.«

Ein Instrument, die Arbeitgeber in die Verantwortung zu nehmen, seien die für Kindertagesstätten gesetzlich vorgeschriebenen Schutzkonzepte. »Wenn professionelles Handeln wegen des Personalmangels nicht möglich ist, ist das ein Risikofaktor, der ins Schutzkonzept gehört«, sagte Alsago. Die personelle Unterbesetzung gefährde nicht nur das Kindeswohl, sondern auch die Gesundheit der Beschäftigten – und auch für diese trügen die Arbeitgeber innerhalb ihrer Fürsorgepflicht die Verantwortung. Um Kinder und Beschäftigte zu schützen, empfiehlt ver.di den Kita-Teams, einen »Notfallplan« auszuarbeiten. In diesem wird konkret festgelegt, welche Maßnahmen ergriffen werden, wenn zu wenig Personal da ist. Für das Team, aber auch für die Eltern wird dies über ein »Personalbarometer« sichtbar gemacht: Bei grün ist die Personalbesetzung in Ordnung, alle Aufgaben können erfüllt werden. Bei gelb und orange treten jeweils vorab vereinbarte Maßnahmen in Kraft – bis hin zur Schließung der Einrichtung, wenn das Barometer rot anzeigt.

»Kasseler Erklärung« fordert funktionierendes, demokratisches Gemeinwesen

Trotz des Fachkräftemangels müssten Arbeitgeber die Gesetze einhalten, betonte Alsago und stellte klar: »Die Beschäftigten haben den Fachkräftemangel nicht zu verantworten.« Es gelte, dies auch in der Öffentlichkeit und gegenüber der Politik klarzumachen. »Wir müssen das, was wir in den Einrichtungen erleben, auf die Straße bringen«, appellierte die Gewerkschafterin. So haben ver.di-Aktive im Februar symbolisch die Bildungspläne an Museen übergeben, um zu zeigen: Unter den aktuellen Bedingungen kann der Anspruch auf frühkindliche Bildung nicht eingelöst werden. Seit Mitte Oktober machen Kolleg*innen aus Kitas bundesweit jeden Donnerstag mit Mahnwachen auf die Situation aufmerksam. Motto: »Es donnert in den Kitas.«

 
ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler kritisiert die Sozialkürzungen der Bundesregierung.

Über mögliche Strategien in den anderen Arbeitsfeldern des Sozial- und Erziehungsdienstes sowie über inhaltliche Themen diskutierten die rund 120 Teilnehmenden der Konferenz in einer Vielzahl parallel laufender Arbeitsgruppen. Zum Abschluss forderten sie in der »Kasseler Erklärung« ein »funktionierendes, demokratisches Gemeinwesen«. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler hatte zuvor kritisiert, dass die Bundesregierung ausgerechnet in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales den Rotstift ansetzt. Die Soziale Arbeit vertrete diejenigen, die in der Gesellschaft sonst keine Stimme haben. Kürzungen in diesem Bereich müssten verhindert werden. Diese hätten »gravierende Auswirkungen auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und unsere Demokratie«, heißt es in der einstimmig beschlossenen Erklärung, die zugleich bekräftigte, dass sich ver.di weiter für die Aufwertung und Anerkennung der Sozialen Arbeit einsetzen wird – sowohl auf der betrieblichen und fachpolitischen Ebene als auch mit den Mitteln der Tarifpolitik.

 

Desiree Aust, Kita-übergreifende Praxisanleiterin, und Dirk Heinke, Sozialarbeiter in der Migrationsberatung, arbeiten bei der AWO in Berlin.

»Ob in den Kommunen oder bei freien Trägern, wir Beschäftigte haben die gleichen Interessen. Das ist beeindruckend deutlich geworden, als am 16. November über 3.000 Kolleg*innen der AWO und der Kita-Eigenbetriebe in Berlin gemeinsam auf die Straße gegangen sind. Da haben wir unsere Macht gespürt – das war großartig! Die städtischen Kitas in Berlin sind Teil der Länder-Tarifbewegung und wir im AWO-Landesverband sind zeitgleich in einer Tarifauseinandersetzung. Wir wollen Schritt halten mit dem restlichen öffentlichen Dienst und fordern, dass der kommende Tarifabschluss für die Bundesländer ohne Verzögerung auf unsere rund 2.000 AWO-Kolleg*innen übertragen wird. Gemeinsam sind wir stark!«

 

Martina Meyer, Erzieherin und Personalrätin bei den Kitas der Stadt München und Vorsitzende der ver.di-Bundesfachgruppe Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit.

»Das ganze System der frühkindlichen Bildung in Deutschland passt nicht mehr. Darauf machen wir mit unserer Kampagne „SOS Kita“ aufmerksam. Bei wöchentlichen Mahnwachen fordern wir, dass sich die Politik endlich bewegt. Denn wir bewahren die Kinder nicht auf, sondern vermitteln Bildung. Das ist unser Anspruch und das ist auch gesellschaftlich unbedingt nötig. Denn Demokratiebildung beginnt im Kindergarten. Dafür brauchen wir mehr Fachkräfte und deshalb mehr Ausbildungsplätze – klar. Aber eine Voraussetzung dafür sind auch mehr Fachlehrer*innen für die Ausbildung. Es reicht also nicht, nur an einer Schraube zu drehen. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, sich an der finanziellen und fachlichen Weiterentwicklung der Kitas zu beteiligen.«

 

Maik Waldmann, Gruppenbetreuer in der Eingliederungshilfe und Betriebsratsvorsitzender bei der Lebenshilfe Bielefeld.

»Wie bei vielen freien Trägern gab es vor einigen Jahren auch bei uns keinen Tarifvertrag. Die Bezahlung war ganz unterschiedlich und lag zum Teil 20, 25 Prozent unter dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD). Wir haben uns zusammengetan und das geändert. Die Zahl der ver.di-Mitglieder hat sich verfünffacht. In 16 Verhandlungsrunden haben wir einen Haustarifvertrag erreicht, der fast an das TVöD-Niveau heranreicht. Für den Einzelnen bedeutet das eine gewaltige Gehaltssteigerung. Als nächstes wollen wir auch die kleineren GmbHs der Lebenshilfe in den Tarifvertrag holen, in denen er bislang nicht gilt. Die freien Träger an den öffentlichen Dienst anzugleichen, ist ein harter Kampf. Aber es lohnt sich.«

 

Annett Mattheus, Köchin und Personalratsvorsitzende im Berliner Kita-Eigenbetrieb Südwest

»Wenn wir Verbesserungen im Sozial- und Erziehungsdienst durchsetzen, müssen diese für alle Beschäftigten in der Branche gelten. Darum kämpfen wir gerade in Berlin, wo der Länder-Tarifvertrag gilt. Doch es geht uns nicht nur ums Geld, sondern auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Wenn wir in dieser Lohnrunde genug Durchsetzungsmacht aufbauen, Mitglieder und Aktive gewinnen, dann wollen wir eine Tarifbewegung für Entlastung in den Berliner Kitas starten. Nur mit guten Bedingungen können wir genug neue Kolleg*innen gewinnen und halten. Diejenigen, die nach ihrer schulischen Ausbildung in der Kita anfangen, sind meist geschockt, weil sie das, was sie gelernt haben, unter den aktuellen Bedingungen in der Praxis nicht umsetzen können. Wir wollen der permanenten Überlastung Grenzen setzen. Darauf bereiten wir uns mit einer starken Tarifbewegung vor.«

 

 
Die Teilnehmenden der Kasseler Konferenz aus dem Sozial- und Erziehungsdienst zeigen ihre Solidarität mit den kirchlichen Kolleg*innen, die für gleiche Rechte eintreten und dafür eine Petition gestartet haben.

Mehr zur Petition: Gleiches Recht für kirchlich Beschäftigte

 

Kontakt

  • Sarah Bormann

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