Am Limit

In Not: Hamburg schafft viele neue Unterkünfte für Geflüchtete. Doch es fehlt an Fachkräften, die sich um die Menschen kümmern. ver.di-Betriebsgruppe fordert Personalstandards.
26.04.2023

Nach Kriegsbeginn flohen Hunderttausende aus der Ukraine nach Deutschland, etwa 33.000 Menschen landeten in Hamburg. Schon vorher war der Platz für Geflüchtete und Wohnungslose knapp. Die Stadt stampfte in Windeseile viele neue Notunterkünfte aus dem Boden. Der städtische Betreiber „Fördern und Wohnen“ kümmert sich um die Unterbringung der Menschen, sucht dafür händeringend Fachkräfte, doch es fehlt hinten und vorne an Personal. Im Interview berichten Sozialarbeiterin Jenny und Sozialarbeiterin Lisa – beide in der Teamleitung – aus der ver.di-Betriebsgruppe, warum es unbedingt personelle Mindeststandards braucht. Im Interesse aller. 

Wie haben sich eure Arbeitsbedingungen in den Unterkünften verändert?

Lisa: Die Belastung ist enorm gestiegen. Letztes Jahr wurden in Hamburg knapp 19.000 neue Plätze in Unterkünften geschaffen. Dieses Jahr sollen noch mal 10.000 dazukommen. Hamburg tut viel für Menschen in Not. Aber niemand weiß, wo das Personal dafür herkommen soll. Wir haben hunderte neue Beschäftigte eingestellt. Aber das reicht nicht. Ganz viele neue Stellen bleiben unbesetzt. Weil es schlichtweg in Hamburg gar nicht so viele Sozialarbeiter*innen und pädagogische Fachkräfte gibt.

Jenny: Sowohl unsere Arbeitsbedingungen als auch die Lebensbedingungen der Menschen in den Unterkünften haben sich massiv verschlechtert. Die Situation ist für uns alle sehr belastend. In den Gemeinschaftsunterbringungen gibt es keine Einzelzimmer, die Leute teilen sich oft Küche und Badezimmer. Viele Menschen treffen dort aufeinander, die teilweise schwer traumatisiert sind. Am Anfang ist ihre Motivation groß, sich ein neues Leben aufzubauen. Aber sie scheitern an allen möglichen Stellen. Das führt zu wahnsinniger Frustration.

Wie geht ihr als Beschäftigte damit um?

Lisa: Wir tun unser Bestes. Die Belegschaft zeigt enormes Engagement, ganz viel wird ‚on top‘ geleistet. Alle machen viele Überstunden, weil sie die Bewohnerinnen und Bewohner nicht alleine lassen wollen. Aber so sehr wir uns auch bemühen: Wir kommen mit der Arbeit nicht hinterher – und können die Situation für uns und die Menschen in den Unterkünften nicht verbessern.

 

 
Beschäftigte von "Fördern und Wohnen" streiten für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, hier beim Warnstreik am 8. März 2023 in Hamburg

Wie viel Personal ist für wie viele Bewohnerinnen und Bewohner zuständig?

Jenny: Offiziell gilt in den Unterkünften für Geflüchtete und Wohnungslose ein Personalschlüssel von 1 zu 80, also mindestens eine Fachkraft soll auf 80 Bewohner*innen kommen. Aber in der Praxis wird er schon lange nicht mehr eingehalten. Unser Unternehmen tut viel, um neue Beschäftigte zu finden und zu halten. Aber die Kapazitäten sind einfach erschöpft. Wir können auch nicht Personal ohne Qualifikation einstellen. Das wäre uns keine Hilfe – im Gegenteil.

Lisa: Egal, wie viel wir machen und tun – wir können die Menschen nicht mehr auffangen. Das fällt uns immer wieder auf die Füße. Schon vor dem Angriff auf die Ukraine waren die Zahlen von Bewohnerinnen und Bewohnern in den Unterkünften höher als unsere personellen Kapazitäten. Die Menschen aus der Ukraine kamen noch oben drauf. Hinzu kommen all die Geflüchteten aus anderen Ländern. Und die obdachlosen Menschen.

Wie sieht eure Arbeit konkret aus?

Lisa: Wir haben den Auftrag, die Menschen von der Straße zu holen. In Hamburg gibt es das Konzept der Fachstellen. Wir bieten eine Orientierungsberatung und verweisen weiter an andere Hilfsangebote. Offiziell haben wir gar keinen umfassenden pädagogischen Auftrag, sondern sind in erster Linie für die Unterbringung zuständig. Aber wir brauchen mindestens eine pädagogische Fachkraft pro Team. Diese Expertise ist vor Ort extrem wichtig. Denn der soziale Friede ist bei uns gefährdet.

Was meinst du damit?

Lisa: Die Konflikte nehmen deutlich zu. Es wird immer enger in den Unterkünften. Der Platz ist total verdichtet. Es gilt: Hauptsache, niemand muss auf der Straße schlafen. Die Menschen können sich nicht aussuchen, mit wem sie ein Zimmer teilen. Die Unterbringung ist ausgelegt auf einen kurzfristigen Aufenthalt, aber de facto bleiben sie im Schnitt drei bis vier Jahre bei uns. Das führt zu großem Frust. In den Einrichtungen kommt es häufiger zu Streitereien, bis hin zu Tötungsdelikten.

Jenny: Es gibt viele Konflikte in den Wohneinrichtungen, teilweise mit massiver Gewalt. Auch das Personal wird öfter bedroht. Es kommt immer wieder zu Übergriffen. Normalerweise würden wir gewalttätige Bewohner*innen in andere Einrichtungen verlegen. Aber es gibt einfach keine Plätze. Deshalb bleiben sie, wo sie sind, in der Regel in Zweibettzimmern.

Wie schützt ihr euch vor Gewalt?

Lisa: Zum Glück verstehen die Bewohnerinnen und Bewohner in der Regel, dass nicht wir schuld an ihrer Misere sind, sondern das System. Mit der Zeit stumpft man auch etwas ab und nimmt sich nicht mehr alles so zu Herzen. Aber wir brauchen dringend mehr Personal, um mit der Situation umgehen zu können. Wir sind das letzte Auffangbecken. Bei uns landen auch Drogenabhängige und Menschen, die gerade aus der Haft oder der Psychiatrie entlassen wurden. Das können wir mit unserem Stellenschlüssel gar nicht auffangen. Wir brauchen die Ressourcen, um damit umgehen zu können.

 

Soziale Arbeit mit Geflüchteten

Geflüchteten Menschen wird in Deutschland in vielen Bereichen die gleichberechtigte Teilhabe verweigert – sei es bei der Ausbildung, dem Zugang zum Arbeitsmarkt oder der Gesundheitsversorgung. Die Aufgabe von Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen ist es, sie dabei zu unterstützen, sich eine passende Perspektive verschaffen zu können. Dafür braucht es für Gemeinschaftsunterkünfte fachliche Konzepte, faire Bezahlung und attraktive Arbeitsbedingungen. Auskömmliche, verbindliche Personalschlüssel unter Berücksichtigung des Anteils von Gruppen mit erhöhtem Schutzbedarf wie beispielsweise Kindern und Jugendlichen oder Menschen mit Behinderungen sind Voraussetzung, damit sich auch weiterhin Fachkräfte für diese wichtige Arbeit entscheiden und bei ihrer Arbeit gesund bleiben. ver.di fordert – auch vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine – mehr Anstrengungen und eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen sowie unbürokratische Lösungen für die Einstellung geflüchteter pädagogischer Fachkräfte.

Darüber hinaus müssen aber auch die strukturellen Bedingungen verändert werden, durch die viele Probleme erst entstehen. Deshalb setzt sich ver.di für die menschenwürdige Unterbringung und die Einhaltung qualitativer Mindeststandards für Geflüchtete ein. Das Recht auf die freie Wahl des Wohnorts darf nicht auf Dauer für bestimmte Gruppen eingeschränkt werden. Des Weiteren fordert ver.di die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und fordert eine Gleichstellung für den Bezug von Leistungen nach dem Bürger*innengeld. ver.di setzt sich für die Schaffung rechtssicherer Aufenthaltserlaubnisse und einen verbesserten Zugang zu Ausbildungen und zum Arbeitsmarkt für Geflüchtete ein. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete sollen die gleichen Zugangsrechte zur Unterstützung nach dem SGB VIII – wie alle anderen Minderjährigen auch – erhalten.

Mehr Infos zum Thema Migration: migration.verdi.de

 
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