Behutsam nimmt Marcus Steffen* ein Bananenstückchen im Teigmantel nach dem anderen vom Backblech, legt sie auf kleine Porzellanteller und träufelt etwas Honig darüber. Der junge Mann will raus aus der Arbeitslosigkeit. Tatkräftig packt er in der Lehrküche mit an, sortiert Trinkpäckchen in den Kühlschrank, verkauft Süßigkeiten am Werkskiosk, schenkt Kaffee in blaue Becher – und strahlt übers ganze Gesicht. Wie es ihm im Förderzentrum der Werkstatt im Kreis Unna gefällt? »Einfach nur gut«, sagt er. Die Hauswirtschaftsanleiterin Astrid Henke legt ihre Hand auf seinen Rücken und fragt: »Gibt es was Neues wegen der Wohnung?«
Der 21-Jährige lebt aktuell in einer Obdachlosenunterkunft. Mit Unterstützung hat er nebenbei acht Bewerbungen für Wohnungen rausgeschickt. »Bitte Daumen drücken«, betont Astrid Henke.
Am Herd rührt Mario Esposito in der Champignon-Rahmsoße und schöpft Spätzle aus einem Topf. Am Anfang sei er »wirklich skeptisch« gewesen, als ihn das Jobcenter auf das Weiterbildungsprojekt hinwies. »Aber ich habe Gefallen daran gefunden.« Bereits seit einem Jahr kommt er dreimal pro Woche – freiwillig, wie er betont. Geld bekommt er dafür nicht, nur die Fahrkarte wird ihm bezahlt.
In den ersten Wochen habe er direkt sieben Kilo abgenommen. »Vorher habe ich ja die meiste Zeit vor dem Fernseher auf der Couch gehockt.« Ihm tut es gut, zu arbeiten und mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Früher war Mario Esposito auf dem Bau tätig, aber seit einem Unfall ist er körperlich stark eingeschränkt.
Das Modellprojekt endet zum 30. April. Das Land Nordrhein-Westfalen und das Jobcenter haben keine weitere Finanzierung bewilligt. Was er dann macht? Mario Esposito weiß es nicht. »Das wird sehr, sehr hart«, sagt er. »Draußen wollen sie einen ja nicht haben.« Der kräftige Mann verschwindet kurz nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Astrid Henke schüttelt den Kopf. »Das ist so schrecklich.«
Das Projekt richtet sich an Menschen, die psychisch und körperlich schwer belastet sind. Viele von ihnen haben vorher jahrelang ihre Wohnung nicht verlassen, weil sie unter sozialen Phobien, Panikattacken oder Übergewicht litten. Das Team der Werkstatt sucht die Menschen gezielt zu Hause auf und stabilisiert sie gemeinsam mit einer Psychologin und einer Ergotherapeutin. Im nächsten Schritt führen sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder an strukturierte Arbeitsabläufe heran, in der Küche sowie dem Garten- und Landschaftsbaubetrieb des Trägers. Mit viel Einsatz haben sie Beziehungen aufgebaut, sagt Astrid Henke. »Und jetzt«, die Hauswirtschaftsanleiterin formt aus Zeige- und Mittelfinger eine Schere, »wird alles abgeschnitten.« In der Weiterbildungsbranche ist es üblich, dass Projekte immer nur für eine bestimmte Dauer ausgeschrieben werden. Mal für einige Monate, mal für ein paar Jahre, mit Option auf Verlängerung. Die Werkstatt im Kreis Unna bietet zahl- reiche Angebote zur Aus- und Weiterbildung; viele für besonders benachteiligte Menschen. So unterstützen sie jährlich fast 500 Jugendliche dabei, ihren Schulabschluss nachzuholen oder eine Ausbildung zu machen. »Viele sind vorher teilweise jahrelang nicht zur Schule gegangen und komplett aus allen Systemen rausgefallen«, erklärt der Geschäftsführer Herbert Dörmann. »Mit viel Mühe gelingt es uns, sie zurückzuholen.«
Die Aufträge dafür werden von der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter ausgeschrieben. »Jedes Mal entwickeln wir neue Konzepte, so dick wie ein kleines Taschenbuch«, berichtet Herbert Dörmann. Wochenlang sind sie damit beschäftigt, die Anträge zu schreiben. Etwa vier von fünf landeten in der Tonne. Bei der Vergabe der Aufträge werden – neben dem Konzept – vor allem die Kosten beurteilt. »Wenn ein anderer Träger einen günstigeren Preis anbietet, fliegen wir raus.«
Seit die Politik im Zuge der Hartz-IV- Reformen die Vergabepraxis eingeführt hat, macht sich Preisdumping in der Weiterbildungsbranche breit. Auf Kosten der Beschäftigten. Auch die Werkstatt im Kreis Unna stieg damals aus dem Tarifvertrag aus. »Wir hätten sonst nicht überlebt«, ist der Geschäftsführer überzeugt. Um eine Haltelinie zu setzen, sorgte ver.di dafür, dass ein allgemeinverbindlicher Mindestlohn für pädagogisches Personal in der beruflichen Weiterbildung nach dem Sozialgesetzbuch II und III festgelegt wurde. »Seither ist dieser Mindestlohn zur Leitwährung in der Branche geworden.«
Personalmangel in der Branche ist groß. »Uns rennen die Leute weg«, sagt Herbert Dörmann. Die Vergabepraxis begünstigt auch prekäre Arbeitsbedingungen. Viele Beschäftigte hangeln sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten.
»Bei unserem Arbeitgeber haben wir erreicht, dass alle Beschäftigten einen unbefristeten Arbeitsvertrag haben«, sagt die Diplompädagogin Friederike Bamberg, im knalltürkisen ver.di-Shirt. »Das ist längst nicht die Regel in unserer Branche. Unsere Kolleg*innen wechseln ihre Projekte und Einsatzorte.«
Die unsichere und oft unzureichende Finanzierung der beruflichen Weiterbildung erschwert die Rückkehr langzeitarbeitsloser Menschen auf den Arbeitsmarkt und gefährdet Arbeitsplätze bei den Trägern. »Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, was uns diese Arbeit wert ist«, betont die Lehrkraft Dagmar Bremer. Ihre Kollegin Doro Rengers nickt. Die Menschen, mit denen sie arbeiteten, hätten keine Lobby. »Sie ziehen sich zurück und leiden still vor sich hin.«
Für Friederike Bamberg steht fest: »So kann es nicht weitergehen.« Es sei höchste Zeit, bessere Bedingungen durchzusetzen. Dazu gehört ein bundesweiter Tarifvertrag für die öffentlich geförderte berufliche Weiterbildung, auf dem Niveau des TVöD. Die Hoffnung ist groß, dass die Bundesregierung – wie im Koalitionsvertrag angekündigt – ein Tariftreuegesetz einführt.
Damit dürften öffentliche Aufträge nur noch an Träger vergeben werden, die nach Tarifvertrag bezahlen. »Jetzt haben wir eine historische Chance«, meint die Gewerkschafterin. Allerdings stocken die Pläne, bislang gibt es nicht mal einen Referentenentwurf. »Deshalb müssen wir jetzt richtig Druck machen.« Sie kramt Postkarten aus ihrer Tasche hervor: »Nur mit Tarif geht Bildung weiter«, steht darauf. Die Kolleginnen und Kollegen sollen darauf schreiben, warum ein Tarifvertrag so wichtig ist. ver.di sammelt die Karten und übergibt sie dem Bundesarbeitsministerium.
In der Lehrküche räumt Astrid Henke das Geschirr weg. Was sie macht, wenn das Projekt endet? Sie zuckt mit den Schultern. »Ich muss erst mal Luft holen.« Die Ausbilderin kommt schwer darüber hin- weg, dass ihre Arbeit der letzten Jahre jetzt einfach »platt gemacht« wird. Die Psychologin Tina Hackmann stimmt ihr zu.
»Jeder hat eine Chance verdient«, findet sie. »Egal, welche Tiefschläge jemand in seinem Leben hinter sich hat.«
Astrid Henke blickt auf Marcus Steffen neben sich an der Küchentheke – und lächelt. Der junge Mann will nicht nur eine Wohnung finden, sondern auch eine Ausbildung in der Pflege machen. »Das passt richtig gut«, sagt die Ausbilderin. Sie kümmert sich darum, dass er in den Beruf reinschnuppern kann. Im Herbst soll es losgehen. »Das Projekt ist top«, sagt der 21-Jährige, »alle helfen mir super!«
* Namen aller Teilnehmer geändert
Am Standort in Unna endet jetzt auch ein Projekt, bei dem Florian Loerchner arbeitslose Menschen sechs Monate lang für die Arbeit im Offenen Ganztag qualifiziert. Viele davon sind aus der Ukraine, Afghanistan oder Syrien nach Deutschland geflüchtet und haben noch große Probleme mit der Sprache. Der Lehrer vermittelt vor allem pädagogisches Basiswissen. »Wir fangen bei null an.« Früher gab es am Anfang noch einen Eignungstest, berichtet Florian. Dabei hat er geprüft, ob die Arbeit mit Kindern zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern passt. »Aber das wurde aus Kostengründen gestrichen.«
Bei seiner Arbeitszeit ist ein Takt von 45 Minuten für Unterricht und 15 Minuten für Vor- und Nachbereitung kalkuliert, mehr bekommt der Träger nicht refinanziert. »Die Zeit reicht hinten und vorne nicht«, sagt der Lehrer. Steht eine Teamsitzung an oder wenden sich Teilnehmenden nach dem Kurs mit Fragen an ihn, macht er unbezahlte Überstunden. Wenn der Kurs in Unna ausläuft, wechselt Florian in eine andere Stadt.
Seine Kollegin Nina Schmerfeld sollte eigentlich ein Projekt übernehmen, das bei der Berufsvorbereitung noch mehr Augenmerk auf die Sprache legt. Doch jetzt habe die Bundesregierung die Devise ausgegeben, keine Sprachförderung mehr zu finanzieren, sondern die Menschen direkt in Jobs zu bringen, berichtet Nina. »Deshalb weisen uns die Jobcenter keine Teilnehmer*innen zu.« Doch nur wenn sie genug Anmeldezahlen vorweisen, wird der Kurs refinanziert. Deshalb steht zwei Wochen vor dem offiziellen Start noch immer auf der Kippe, ob das Projekt überhaupt stattfindet.
Weiterbildung, Studierendenwerke
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