Gewalt gegen Beschäftigte – ein Thema, über das viele nicht sprechen wollen. Zu Unrecht! Denn ob im Rettungsdienst, in der Psychiatrie, in der Altenpflege, der Kinder- und Jugend- oder Behindertenhilfe, in den Notaufnahmen der Krankenhäuser oder anderswo – für viele Beschäftigte gehören verbale Anfeindungen oder gar körperliche Übergriffe zum Arbeitsalltag. Nur wenn darüber gesprochen wird, können Schlussfolgerungen gezogen und die Ursachen angegangen werden.
Martina Müller (Name geändert) hat bei ihrer Arbeit in einer Schule für mehrfach behinderte Kinder zwei schwere Übergriffe erlebt. Einmal riss ein Schüler ihr so stark an den Haaren, dass sich die Kopfhaut teilweise ablöste. »Das war fürchterlich«, erinnert sich die Lehrkraft, die mittlerweile im Ruhestand ist. Als »ganz schlimm« empfand sie auch die Reaktion der Vorgesetzten: Statt sie zu unterstützen, gaben sie ihr das Gefühl, selbst schuld zu sein. Dabei bestand ein klarer Zusammenhang zu den Arbeitsbedingungen und dem Personalmangel: »Ich war allein mit zwei Klassen heftig auffälliger Schülerinnen und Schüler. Früher waren wir immer zu zweit in einer Klasse, da konnte einer mit dem Schüler rausgehen, wenn jemand aggressiv wurde. Wenn man alleine ist, geht das nicht.«
Dass brenzlige Situationen frühzeitig erkannt und entschärft werden können, wenn genug qualifiziertes Personal vor Ort ist, zeigen auch langjährige Erfahrungen aus der Psychiatrie. »Die Personalausstattung spielt natürlich eine Riesenrolle«, sagt Michael Hechsel, der im Gesamtpersonalrat des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) für den Maßregelvollzug und psychiatrische Einrichtungen zuständig ist. Die Gerichte hätten die Rechte psychiatrischer Patient*innen in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet, zum Beispiel in Fragen der Medikamentation oder der Fixierung. »Das ist eine gute und richtige Entwicklung, aber die Einrichtungen haben sich weder bei der Personalbesetzung noch konzeptuell auf die Veränderungen eingestellt«, meint der Personalrat. Wenn zum Beispiel ein Teil der Patient*innen auf eigenen Wunsch keine Medikamente erhalte, sei das für die Station und die Beschäftigten eine große Herausforderung. »Es braucht dann mehr Personal, um auf die einzelnen Menschen eingehen zu können.«
Für die Sicherheit problematisch seien auch große Stationen. »Studien zeigen eindrücklich, dass die Zahl der Kontakte und damit möglicher Konflikte mit zunehmender Stationsgröße exponentiell steigt«, erklärt Michael Hechsel. Laut einer ver.di-Erhebung betreiben psychiatrische Erwachsenenstationen durchschnittlich über 21 Betten – deutlich mehr als vom Gemeinsamen Bundesausschuss empfohlen.
Neben Personalausstattung und Stationsgrößen gebe es viele weitere Stellschrauben, der Gewalt entgegenzuwirken. »Es gibt verschiedene Konzepte, um Eskalationen zu vermeiden, aber auch, um gut damit umzugehen, wenn doch etwas passiert«, erklärt der Personalrat. Zentral sei beispielsweise ein transparenter und einheitlicher Umgang mit Unfallanzeigen. Diese zu stellen, sei nicht nur für die Betroffenen wichtig, um den Versicherungsschutz zu erhalten. »Man kann aus Unfallanzeigen auch erkennen, an welchen Orten, zu welchen Zeiten und aus welchen Anlässen es häufig zu Gewalt kommt – und die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen, zum Beispiel bei der Ausgestaltung von Räumlichkeiten.«
Den Umgang mit Gewalt zu regeln, sieht Michael Hechsel als wichtige Aufgabe der betrieblichen Interessenvertretungen. Beim LWL hat der Personalrat eine Dienstvereinbarung geschlossen, die unter anderem festschreibt, wie Beschäftigte nach Vorfällen betreut werden und dass die Kolleg*innen beispielsweise auch juristische Unterstützung erhalten können. »Ein ganz zentraler Punkt ist die Sicherheit des Arbeitsplatzes, wenn jemand zum Beispiel nicht mehr auf seiner bisherigen Stelle arbeiten kann«, betont Hechsel. »Wer wegen eines dienstlichen Vorfalls geschädigt wird, darf nicht auch noch finanziell in Schwierigkeiten geraten. Hierfür trägt ein guter Arbeitgeber Sorge.«
Nach Vorfällen ist die Nachsorge sehr wichtig, zum Beispiel in Form »kollegialer Traumahilfe«. Auch die Berufsgenossenschaft bietet Unterstützung an, unter anderem vermittelt sie psychotherapeutische Beratung.
»Im Rettungsdienst ist Gewalt ein alltägliches und wachsendes Problem. Die sozialen und psychischen Probleme in der Gesellschaft nehmen zu – das bekommen wir voll ab. Dabei geht es nicht nur um körperliche Übergriffe, sondern auch um verbale Auseinandersetzungen. In einer ver.di-Befragung berichtete 2022 fast ein Drittel unserer Kolleg*innen, sehr häufig oder oft respektlos behandelt zu werden. Das hat manchmal auch mit Hilflosigkeit zu tun. Wenn zum Beispiel Menschen beim Hausarzt keinen Termin bekommen und in ihrer Verzweiflung den Rettungsdienst rufen. Wir müssen ihnen dann erklären, dass wir für Notfälle da sind. Konflikte sind die Folge. Denn auch auf Seiten der Beschäftigten steigt die Belastung. Immer mehr Einsätze, Arbeitszeiten von bis zu 48 Stunden pro Woche, keine Pausen, Überstunden – das zehrt an den Nerven. Wichtig sind Schulungen. Vorfälle müssen aufgearbeitet, die Betroffenen unterstützt werden. Die Arbeitgeber haben hier eine Fürsorgepflicht.«
Norbert Wunder ist Vorsitzender der ver.di-Bundesfachkommission Rettungsdienst und Leiter der Rettungswache in Elmshorn.
Gewalt gegen Beschäftigte in der Behindertenhilfe:
16.-18.10.2023 Gladenbach,
25.-27.11.2024 Berlin
Gewalt gegen Beschäfigte in forensischen Einrichtungen:
11.-13.03.2024 Saalfeld
Gewalt gegen Beschäfigte in psychiatrischen Einrichtungen:
16.-18.09.2024 Gladenbach