»Will nie mehr anders arbeiten«

Ein Modellvorhaben im Pfalzklinikum ermöglicht, seelisch kranke Menschen so weit wie möglich zu Hause zu behandeln. Reportage in der mittendrin Nr.5.
27.09.2023
Gesundheits- und Krankenpflegerin Fenia Wolff (links) mit ihrer Patientin Sandra
Der »Notfallkoffer« hält Tipps bereit, was gegen schlechte Gedanken hilft.

Gut für alle: Ein Modellvorhaben in der Psychiatrie des Pfalzklinikums ermöglicht, dass multiprofessionelle Teams seelisch kranke Menschen in Krisen so weit wie möglich zu Hause behandeln  

von Kathrin Hedtke 

Schwungvoll verstaut die Gesundheits- und Krankenpflegerin Fenia Wolff, 32, einen Rucksack mit ihrem Laptop und eine Kühltasche für Blutproben im Kofferraum des Dienstwagens – und startet ihre Tour. Als sie wenig später in Jeansshorts und schwarzem Shirt bei der Wohngruppe von Sandra Baumgartner (Name geändert) in Landau in der Pfalz klingelt, reißt die Patientin die Wohnungstür auf und drückt die Krankenpflegerin herzlich an sich. »Ich muss dir was zeigen«, ruft die 46-Jährige mit den hennaroten Haaren. »Guck!« In ihrem Zimmer auf dem Sofa liegt – neben einem Eisbär und einem Koala aus Plüsch – ein nagelneuer Webrahmen, die ersten Reihen sind bereits mit lila Wolle gewebt. »Wow, toll«, sagt Fenia Wolff. »Das können wir ja zum Notfallkoffer hinzufügen.« Die Patientin hat in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten und weist eine Persönlichkeitsstörung auf. Immer wieder stürzt sie in akute Krisen und wurde bereits mehrfach in die Station P17 der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Pfalzklinikums in Klingenmünster eingewiesen. Dort werden ausschließlich Patient*innen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen behandelt.

 
Für alle ein offenes Ohr und ein Lächeln: Fenia Wolff

Beide Seiten profitieren

Ein Modellvorhaben am Pfalzklinikum ermöglicht, dass die Station ein neues Konzept umsetzt – und jetzt bei der psychiatrischen Versorgung sehr viel stärker die Menschen in ihrem privaten Umfeld in den Fokus rückt. Dazu gehört, dass ein multiprofessionelles Team die Patient*innen auch zu Hause oder im Pflegeheim aufsucht. »Das ist der tollste Job überhaupt«, findet Fenia Wolff. »Davon profitieren beide Seiten enorm.« Als Pflegekraft könne sie so viel eigenständiger arbeiten und mehr Verantwortung übernehmen. »Ich will nie mehr anders arbeiten«, verkündet die 32-Jährige. »Die Aufwertung unseres Berufs ist riesig.« Und als Team könnten sie dazu beitragen, akute Krisen zu vermeiden.

»Schließlich kennen wir unsere Pappenheimer«, sagt Fenia Wolff liebevoll. Sandra Baumgartner, zum Beispiel, musste seit der Einführung des Modellprojekts kaum noch in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden. »Und wenn, nur ganz kurz.«

Oft ruft die Patientin nachts auf der Station an, wenn sie traurig ist oder Angst hat. Die Pflegekräfte auf Station sind 24 Stunden am Tag erreichbar. »Gemeinsam haben wir Strategien erarbeitet, wie sie diese Situationen bewältigen kann«, berichtet Fenia Wolff. So hat die Patientin ein Bild mit Glitzersteinen verziert und über ihrem Schreibtisch aufgehängt, in Schönschrift steht darauf »Notfallkoffer« – und drumherum ist alles aufgelistet, was ihr in schlechten Momenten hilft: Pailletten sticken, Mandalas malen, kniffeln, spazieren gehen. Wenn sich eine Krise anbahnt, kommt Fenia Wolff mehrere Wochen lang jeden Mittwoch bei ihr zu Hause vorbei und fragt: »Wie geht es dir?« Vor ein paar Tagen war die Psychologin der Station bei der Patientin zu Besuch. Das Gespräch habe ihr gutgetan, sagt Sandra Baumgartner. Die Pflegekraft tippt auf ihrem Laptop alles in die digitale Patientenakte. Außerdem holt sie eine Liste mit Medikamenten aus ihrem Rucksack und erklärt, dass sie mit der Oberärztin und der Stationsärztin entschieden haben, ihre Dosis etwas zu ändern. »Damit du tagsüber nicht so müde bist.«

 
Jeden Mittwoch plant das gesamte Team die Behandlungen.

Im Team sind alle gleichwertig

Einmal pro Woche kommt das gesamte Team der Station P17 zusammen und bespricht die weitere Behandlung, sowohl stationär als auch ambulant. Mit von der Partie sind neben Pflegekräften und Ärztinnen eine Medizinische Fachangestellte, eine Psychologin, ein Sozialarbeiter sowie ein Sport- und ein Ergotherapeut. »Wir sind alle im Team gleichwertig«, betont Stationsärztin Simone Wolff. Gerade bei ihren Patient*innen, die sich zum Teil gar nicht artikulieren könnten, sei die enge Zusammenarbeit der Professionen wichtig. Für eine ganzheitliche Behandlung gilt: »Wir brauchen uns alle gegenseitig.«

Die Patient*innen leiden unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen, paranoider Schizophrenie oder Borderline. Auf der Station wurden früher bis zu 18 Personen behandelt, bis zu drei pro Zimmer. Seit die Klinik an dem Modellprojekt teilnimmt, gibt es nur noch fünf Krisen- plus zwei Notfallbetten. Jeder Patient hat ein eigenes Zimmer. »Jetzt ist es viel ruhiger auf der Station«, sagt der Stationsleiter Malek Doumi. »Und wir können viel besser auf die Patienten eingehen.« Der 29-Jährige öffnet eine Tür zu einer kleinen Kammer, die vollständig mit blauen Matten gepolstert ist. »Dieser Raum kommt weg.« Was in Filmen oft Gummizelle genannt wird, heißt auf der Station Besonders Geschützter Raum, kurz BGR. Die Polster sind an vielen Stellen zerbissen und zerstört. Deshalb kam die Frage auf, ob der Raum renoviert werden soll. Das Team entschied: »Wir brauchen ihn nicht mehr.« Über ein Jahr musste keine Person mehr in dem Raum davor geschützt werden, sich selbst oder andere zu verletzen. »Das ist mega«, sagt Malek Doumi und strahlt übers ganze Gesicht. Auch sei kaum noch notwendig, Patient*innen zu fixieren. »Wir können jetzt viel besser auf Krisen reagieren.« Er sehe direkt, wenn es jemandem nicht gutgeht. Der Pfleger guckt, was in solchen Situationen hilft: Raus in den Garten gehen? Oder in den sogenannten Snoezelraum? Oft habe er erlebt, dass jemand wild tobt und schreit – und ein paar Minuten später auf der Wassermatratze mit Entspannungsmusik und Sternenlichtern einschläft. »Das funktioniert wirklich. Das ist Wahnsinn.«

 
Zeit und Ruhe: Stationsleiter Malek Doumi erkennt direkt, wenn es jemandem nicht gut geht.

»Jetzt wollen alle zu uns«

Früher habe die P17 einen schlechten Ruf gehabt, berichtet Malek Doumi. Es hieß, die Station habe die anstrengendsten Patient*innen. Oft wurde er gefragt, warum er freiwillig dort arbeitet. »Jetzt wollen alle zu uns.« Erst vor ein paar Tagen habe ihn ein Pfleger auf dem Parkplatz gefragt, ob sie nicht eine freie Stelle hätten. Und auch die Auszubildenden stünden Schlange.

Fenia Wolff stoppt auf ihren Touren auch regelmäßig bei einem Pflegeheim für Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen. Dort nimmt sie Blut ab, überreicht Rezepte, bespricht Behandlungspläne und verabreicht Spritzen. Vor allem aber hört sie zu. Am Küchentisch der Wohngruppe erzählen die Betreuerinnen, wie es den Patient*innen geht, ob Fortschritte zu beobachten sind oder sich akute Krisen abzeichnen. »Wir haben so einen viel besseren Draht«, sagt Kirsten Morgenstein, die als Betreuerin in einer Wohngruppe arbeitet. Manchmal riefen sie auf der P17 an: »Please help!« So könne das Team aktiv werden, bevor die Situation eskaliere, die Betreuerinnen die Polizei anrufen und jemanden zwangseinweisen lassen müssen. »Es kommt immer noch vor, dass es kracht«, stellt Kirsten Morgenstein klar. »Aber für uns ist der enge Kontakt zur Station eine enorme Entlastung.«

In der WG von Sandra Baumgartner gab es kürzlich einen Wasserschaden, im Bad müssen die Fliesen erneuert werden und beide Bewohnerinnen so lange ausziehen. Sie habe überlegt, vorübergehend bei einer Tante zu übernachten, sagt die Patientin. »Oder in der P17!« Fenia Wolff lacht. »Dafür sind wir eigentlich nicht da.« Aber sie freut sich: »Das zeigt, wie sehr uns die Patientin vertraut.«

 
Für Stationsärztin Simone Wolff sind multi-professionelle Teams das A und O.

Modellvorhaben

Seit Januar 2020 wird im Pfalzklinikum das bundesweit größte Modellvorhaben mit dem Titel »Innovative Psychiatrie für das 21. Jahrhundert – Wohnortnah. Kompetent. Menschlich« umgesetzt. Die Behandlung seelisch erkrankter Menschen erfolgt durch multiprofessionelle Teams überwiegend im persönlichen Umfeld. Dadurch sollen Krankenhausaufenthalte verkürzt oder bestenfalls vermieden werden. Das Projekt ist auf acht Jahre angesetzt.

 

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