Um Punkt zehn Uhr läuft das Band für das Mittagessen an: Zügig schiebt sich ein Tablett nach dem anderen heran. Eine Küchenhelferin packt mit dicken Stoffhandschuhen dampfende Tortellini auf die Porzellanteller, ihre Kollegin verteilt Schnitzel und Rösti, dazu gibt es frischen Salat und Quark zum Nachtisch. Die warme Luft in der Großküche der Uniklinik in Marburg steht. Die Lüftung ist ausgeschaltet, damit das Essen für die Patienten nicht abkühlt. Neonröhren verbreiten grelles Licht. Eine Frau taucht die Kelle in die Tomatensoße, eine andere greift ein Sesambrötchen aus dem Regal, immer wieder die gleiche Handbewegung. 1.000 Mahlzeiten. »Klong«, überall scheppert und klirrt es leise, doch sonst ist es ruhig. Die Küchenhelferinnen mit ihren weißen Hauben arbeiten konzentriert Hand in Hand. »Das ist wie bei einem Orchester«, sagt Gruppenleiter Michael Kroll. »Jeder weiß, wann sein Einsatz ist.« Wer mal nicht mitkommt, ruft laut »Stopp« und das Band hält an. Doch das kommt selten vor. Fast alle Kolleginnen arbeiten schon seit vielen Jahren zusammen.
Der Gruppenleiter läuft mit weißer Kochmütze und karierter Hose durch die geflieste Halle, wechselt hier ein paar Worte, scherzt dort etwas. Er guckt dem Azubi – ein Flüchtling aus Guinea – über die Schulter, ermahnt ihn, nicht zu viel von der Möhre abzuschneiden. »Wir leisten uns noch den Luxus, selbst auszubilden«, sagt der 52-Jährige. Das sei selten in Großküchen von Krankenhäusern. Ein Grund: Oft wird gar nicht mehr selbst gekocht. »Da wird nur noch Tiefkühlkost auf dem Teller aufgewärmt.« Das ist in der Marburger Uniklinik anders. Der Gruppenleiter schneidet eine Zitrone auf, tröpfelt etwas Saft in eine Schüssel voller Aprikosenhälften, daraus wird ein Sorbet für den Nachtisch. »Wir stellen noch viel selbst her«, betont der Koch stolz. Von der Salatsoße bis zur Möhrensuppe. Sogar Hühnerbrühe, für Patient/innen nach einer Operation.
Ein Blick auf das weiße Kärtchen auf dem Tablett und die Küchenhelferinnen wissen, welches Menü der Patient bestellt hat: Vollkost, leichte Kost, ohne Schweinefleisch, vegetarisch oder – derzeit ganz angesagt – vegan. Die Sonderwünsche hätten zugenommen, berichtet Diätassistentin Ingrid Sagel. Bei ihr im kleinen Büro hinter Glas laufen alle Essenskarten der Stationen auf. Im Computer sind 200 Kostformen hinterlegt, von fettreduziert bis laktosefrei. Nach eigenen Rezepten. »Doch viele Patienten passen in kein System«, berichtet die 58-Jährige. Zum Beispiel notiert sie per Hand auf einer Karte: Ohne Hühnereiweiß, Nüsse, Guarkernmehl, Gerstenmalzextrakt. Ein Diätkoch bereitet die Mahlzeit speziell zu. Ständig klingelt das Telefon, immer wieder werden Bestellungen kurzfristig geändert. Ingrid Sagel eilt zwischen Computer und Band hin und her. »Zum Glück sind wir so ein eingespieltes Team«, sagt die Diätassistentin. »Sonst würde es nicht so reibungslos klappen.«
Die meisten Mitarbeiterinnen in der Küche sind schon über 50. Wer einmal da ist, bleibt – mitunter länger als geplant. Das liegt auch an den vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen. Leiharbeit, Befristungen, Schichten bis tief in die Nacht? »Haben wir alles weitgehend abgeschafft«, sagt Gruppenleiter Kroll. Die Küchenhelferinnen spülen das schmutzige Geschirr vom Abendessen jetzt einfach morgens. »So konnten wir die Arbeitszeiten entzerren«, berichtet der Gewerkschafter. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen die Küchenhelfer in einer stickigen Kammer schwitzen mussten. Die Spülküche wurde nach dem neusten Standard umgebaut. Und wenn zu viele Kolleginnen und Kollegen krank sind, greift ein Notfallplan. In einem roten Ordner ist genau geregelt, ab welcher Personalgrenze zum Beispiel auf Nachtisch verzichtet wird, um die Arbeit zu reduzieren. Niemand werde aus seiner Freizeit zum Dienst geholt. »Das gibt es bei uns nicht«, sagt der Koch, »ich kann meine Leute nicht verheizen.« Sonst hielten sie nicht bis zur Rente durch. »Das ist ein Knochenjob«, betont der Gruppenleiter. An 365 Tagen pro Jahr.
Doch die Errungenschaften mussten sich die Kolleginnen und Kollegen erst erkämpfen. Rund 60 Prozent von ihnen sind bei ver.di organisiert. Das war nicht immer so. Früher seien von den etwa 80 Beschäftigten nur zwei in der Gewerkschaft gewesen, berichtet Kroll. Er selbst auch nicht. Bis die Küche kurz nach der Privatisierung der Uniklinik 2006 in eine klinikeigene Servicegesellschaft der Rhön AG ausgegliedert wurde. Davon hätten sie eigentlich nicht viel gemerkt, sagt der Gruppenleiter. »Nur der Briefkopf auf der Gehaltsabrechnung war ein anderer.« Und trotzdem. Für die Neuangestellten hätte es deutliche Verschlechterungen bedeutet: weniger Lohn, weniger Urlaub. »Wenn man mit so etwas anfängt, kann sich die Belegschaft schnell spalten«, warnt Kroll.
Deshalb ist er bei ver.di eingetreten – und hat nach und nach seine Kolleginnen und Kollegen mobilisiert. Zum Beispiel Manuela Scholz, 57. Die Küchenhelferin wischt mit einem Lappen über die glänzenden Edestahloberflächen und berichtet, wie sie damals nach mehreren Gesprächen beschlossen hat: »Ich mache mit!« Der erste Streik habe sich etwas komisch angefühlt. Doch sie sei stolz darauf, was sie erreicht hätten. »Je mehr mitmachen, desto besser für uns.«
Nach einem Jahr wurde die Küche damals wieder ins Krankenhaus zurückgeholt. Seither hat die Belegschaft immer wieder mal gestreikt, meist für mehr Lohn. Doch die Sorge bleibt, eines Tages doch ausgegliedert zu werden. »Die Angst ist immer da«, sagt der Gruppenleiter. Grund ist der enorme Kostendruck. Externe Anbieter drücken die Preise. Immer wieder marschieren Unternehmensberater durch die Großküche der Uniklinik und gucken, wo sich Arbeitsschritte optimieren – und ein paar Euro einsparen lassen. »Billiger geht immer«, so Kroll, »die Frage ist nur, zu welchem Preis.«
In der Uniklinik sind pro Patient 3,80 Euro für Lebensmittel am Tag eingeplant, berichtet Betriebsleiterin Margit Kirchhain. »Wir bieten gute Qualität«, darauf legt sie Wert. Das Essen sei wichtig für den Ruf eines Krankenhauses. Darüber redeten alle – und daran erinnerten sich die Patienten noch Monate später. Zudem habe die Klinik einen Ernährungsauftrag, findet Kirchhain. »Die Patienten denken, was sie hier bekommen, ist goldrichtig.«
Die Beschäftigten der Küche ärgern sich, dass sie vor allem als »Kostenverursacher« angesehen werden. Ihnen fehlt die Wertschätzung. Die schwere körperliche Arbeit, der Lärm, die ständige Hitze, die hohe Luftfeuchtigkeit, der permanente Zeitdruck: »Das hat nichts mit dem Traumberuf zu tun, wie man ihn aus Kochsendungen kennt«, meint Kroll. Trotzdem liebt er seine Arbeit. Um acht und um zwölf Uhr macht die Belegschaft eine halbe Stunde Pause. Die Halle ist leer, das Band steht. Die Kolleginnen und Kollegen sitzen zusammen, sie frotzeln, diskutieren, erzählen – oder schweigen. Der Gruppenleiter trinkt Kaffee, beißt ins Brötchen. Was er sich für die Zukunft wünscht? »Dass alles so bleibt, wie es ist.«
Kathrin Hedtke