Nur Hausschuhe reichen nicht – Pflege, Haushalt, Freizeit: Persönliche Assistenz ermöglicht behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben. Vieles wird dadurch erschwert, dass es noch immer kein anerkannter Beruf ist | Kathrin Hedtke
Die letzten Meter bis zur Wohnung hastet Ingo Misterek durch die Kälte. Vor der Haustür drückt er eilig seine selbstgedrehte Zigarette aus, will gerade auf die Klingel drücken, als sein Handy in der Westentasche summt. »Bin schon da«, erwidert der 58-Jährige. Der Türöffner surrt. Es ist 14.29 Uhr. Um 14.30 Uhr beginnt offiziell seine Schicht. Ingo Misterek ist persönlicher Assistent einer behinderten Frau. Pünktlichkeit sei in seinem Job sehr wichtig, betont er. »Unsere Klienten müssen sich auf uns verlassen können.«
In der Erdgeschosswohnung im Frankfurter Westend wartet Sonja Reinhardt (Name geändert), vor sich eine Fernsehzeitung und ihr Smartphone. Die 32-Jährige mit den kurzen, kastanienroten Haaren sitzt im elektrischen Rollstuhl, kann nur die rechte Hand bewegen. Seit vor zwei Jahren zu ihrer Behinderung ein Meniskusschaden hinzu kam, »geht absolut gar nichts mehr«, sagt die junge Frau. Auf die Toilette gehen, Zähne putzen, ein Butterbrot essen oder einfach nur anders hinsetzen, für fast alles benötigt sie Hilfe. Deshalb wird sie rund um die Uhr von Beschäftigten des Clubs Behinderter und ihrer Freunde (CeBeeF) in Frankfurt am Main betreut.
In der Zwei-Zimmer-Wohnung hängen Ausmalbilder von Bibi Blocksberg und Fotos von einem jungen Popmusiker an der Wand. Der Assistent geht neben Sonja Reinhardt in die Hocke: »Was möchtest du machen?« Erst einmal Wäsche. Ingo Misterek kniet sich im braungefliesten Bad vor die Waschmaschine, Sonja Reinhardt rollt hinterher, steckt den Kopf um die Ecke. »Die weiße Decke mit rein«, sagt sie. »Und jetzt noch die Seife.« Zurück im Wohnzimmer: »Kochst du bitte Kaffee.« Ingo Misterek setzt Filterkaffee auf. »Gibst du mir die Diddltasse.« Der Assistent nimmt den Becher mit der Comicmaus aus dem Regal, steckt einen Strohhalm hinein. Während Sonja Reinhardt ihren Kaffee trinkt, blättert er die Ordner auf dem Tisch durch. Alles muss dokumentiert werden: Im grünen Hefter Essen und Trinken, im roten Ordner Körperpflege, in einem Extrabuch die Blutzuckerwerte.
Sonja Reinhardt hat Diabetes, muss Insulin spritzen. Ingo Misterek streift Gummihandschuhe über, drückt ihr den Pen in die Hand und hält ihren Pulli hoch, damit sie sich in den Bauch piksen kann. Pflege, Freizeit, Haushalt – der Assistent kümmert sich um alles. »Ich bin so froh, dass es Ingo und seine Kollegen gibt«, sagt Sonja Reinhardt. Vorher kam vier Mal am Tag ein ambulanter Pflegedienst. Der Zeitdruck war groß. Abends eine Stunde fürs Ausziehen, Zähneputzen, Duschen und Zubettgehen, »total stressig«. Und zwei Mal 15 Minuten für Toilettengänge. Da blieb nicht aus, dass sie oft eingenässt war. Ein Pflegeheim kam für die junge Frau nicht infrage. Sie lebt seit ihrem 18. Lebensjahr alleine, das soll auch so bleiben. »Ich möchte essen, was ich will und wann ich will.« Mit etwas Hilfe geht das.
Nicht als Beruf anerkannt
Die Persönliche Assistenz hat sich aus der »Krüppelbewegung« der 1970er Jahren entwickelt. Ziel ist es, dass alle ein selbstbestimmtes Leben führen können. Lange hieß es, die Arbeit sollte bewusst von »Laien« verrichtet werden. Doch davon ist keine Rede mehr. »Laienhelfer degradiert einen so«, findet Assistentin Gabriele Breder, »und es stimmt auch nicht.« Sie sei bei ihrer Arbeit als Psychologin, Sozialpädagogin, Haushaltsfachkraft und Krankenpflegerin tätig. Doch Persönliche Assistenz ist in Deutschland noch immer nicht als Beruf anerkannt. Das heißt, dass es auch keine Ausbildung gibt.
Oft bekämen neue Kolleginnen und Kollegen nicht mal eine richtige Einarbeitung, kritisiert CeBeeF-Betriebsrätin Astrid Buchheim. Der Arbeitgeber rate ihnen lapidar, sie sollten sich Hausschuhe mitnehmen, der Rest ergebe sich von selbst. Doch so leicht ist es nicht. Viele fühlten sich überfordert, berichtet die Gewerkschafterin. »Etwa die Hälfte kündigt in den ersten Monaten wieder.« Die Belastung sei hoch. Die Beschäftigten arbeiteten in privaten Wohnungen, dort seien sie weitgehend auf sich gestellt. Schwierig sei auch, das Verhältnis von Nähe und Distanz auszuloten. »Die Grenzen verschwimmen«, so Astrid Buchheim. »Es ist nicht leicht, sich abzugrenzen.« Viele Assistenznehmer/innen litten unter Depressionen. Zum Beispiel Menschen, die nach einem Unfall plötzlich bis zum Hals gelähmt sind. Oder die unter einer tödlichen Krankheit leiden. Einige reden von Selbstmord, andere sind aggressiv.
Türen öffnen
»Für Menschen mit Behinderung wird die Welt immer kleiner«, sagt Ingo Misterek. Die sozialen Kontakte schrumpften. Seine Aufgabe sei es, »Türen für die Welt draußen zu öffnen«. Mit seinen Klient/innen geht er gerne ins Café, in den Zoo oder ins Museum. Doch oft sei das schwer umzusetzen, räumt er ein. Nach seinem Dienst läuft Ingo Misterek abends häufig noch lange durch die Straßen. »Sonst könnte ich nicht schlafen«, sagt er. Zur seelischen Belastung kommt die körperliche Anstrengung. Der Assistent leidet unter Rückenschmerzen und Gelenkproblemen.
Und das alles für sehr wenig Geld. Als Gabriele Breder mit dem Job anfing, waren ihre Ersparnisse ruck, zuck aufgebraucht. Bei einer 25-Stunden-Woche verdiente die alleinerziehende Mutter einer Tochter 850 Euro netto. Das reichte hinten und vorne nicht. »Und 25 Stunden Assistenz heißt auch, ganz schön geschafft zu sein«, betont 55-Jährige. Jetzt bekommt sie dafür 1.200 Euro. Immerhin. Der Grund: Die rund 200 persönlichen Assistentinnen und Assistenten des CeBeeF haben einen Haustarifvertrag erkämpft, bislang einzigartig in der Branche.
Das war nicht leicht. »Vor allem, weil alle so vereinzelt sind«, berichtet Betriebsrätin Astrid Buchheim. Sie sehen sich meist nur kurz bei der Übergabe – und auch da nie alleine. Wichtig seien deshalb ganztägige Betriebsversammlungen gewesen. Die Kolleginnen und Kollegen sollten ins Gespräch kommen. Das hat funktioniert. Beim Streiken war die Vereinzelung übrigens ein Pluspunkt. »Der Arbeitgeber saß in seiner Zentrale und wusste nicht, wo jemand streikt«, berichtet Astrid Buchheim. Die Vorgesetzen hätten selbst ausschwärmen müssen, um sich zu vergewissern, dass alle Assistenznehmer/innen versorgt sind. Drei Warnstreiktage haben gereicht. Seit Mai 2015 gilt der Tarifvertrag. Für Ingo Misterek macht das einen großen Unterschied. Seitdem kann er mal im Café frühstücken oder in die Kneipe gehen. »Sogar Kultur ist möglich.«
Sonja Reinhardt will zum Drogeriemarkt. Ihr Assistent legt ihr den Wollponcho über die Schulter, hängt ihr die schwarze Lederhand-tasche um den Hals. Draußen drückt die 32-Jährige den Joystick nach vorne – und der Rollstuhl flitzt über den Gehweg, holpert den Bordstein runter auf die Straße. Schnellen Schrittes marschiert Ingo Misterek hinterher. In der Drogerie zeigt die junge Frau auf ein Duschgel nach dem anderen. Ihr Assistent nimmt geduldig alle Packungen aus dem Regal, liest jedes Etikett vor. Doch immer wenn es auf 19.40 Uhr zugeht, treibt die 32-Jährige ihn zur Eile an. Sie will pünktlich zum Start von »Gute Zeiten, schlechten Zeiten« Zuhause sein. Ingo Misterek verdreht die Augen, er kann die Serie nicht ausstehen. Aber was soll’s. »Wir machen alles genau so, wie Sonja das will.« Für ihn zählt nur, dass seine Klientin einen guten Tag erlebt.
Seit 2011 arbeiten Beschäftigte und Gewerkschafter verschiedener Betriebe, die Leistungen der Daseinsvorsorge für die Stadt Frankfurt am Main erbringen, in einem Netzwerk zusammen. Ihre zentralen Forderungen: Tariflöhne mindestens auf dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD), städtische Aufträge nur noch an tarifgebundene Träger und mehr Transparenz durch Wirtschaftsausschüsse. Infos und Kontakt: www.frankfurternetzwerk.blogsport.eu