vor Ort

Gold wert

Beschäftigte in der ambulanten Pflege brauchen mehr als nette Worte. Sie arbeiten hart, verdienen wenig. Kein Wunder, dass das Personal knapp ist | Kathrin Hedtke
06.02.2018
Viele Pflegebedürftige sind auf ambulante Dienste angewiesen

Mit einem fröhlichen »Hallöchen« verschwindet Stephanie S. im ehemaligen Arbeitszimmer des Einfamilienhauses. Seit einer Gehirnblutung ist Rudolf Barmer* ein Pflegefall, kann sich kaum bewegen. Die Pflegehelferin streift blaue Latexhandschuhe über, schlägt die Bettwäsche zurück und wäscht den 88-Jährigen. Im Flur ist zu hören, wie die beiden plaudern und lachen. Jetzt hat seine Frau kurz Pause. Die alte Dame setzt sich an den Küchentisch, isst ein Wurstbrot, hört Musik, blättert in der Tageszeitung. Sie liebt es, in Ruhe zu frühstücken. »Sonst bin ich den ganzen Tag am Rennen«, sagt Rosmarie Barmer. »Die ambulante Pflege ist für mich eine enorme Entlastung.«

Seit Jahren kümmert sich die 85-Jährige rund um die Uhr um ihren Mann. Doch auch ihr setzt das Alter zu, vor allem im Knie. Deshalb war irgendwann klar: »Wir brauchen Hilfe.« Jetzt kommt jeden Morgen der ambulante Dienst. »Ich sorge dafür, dass die alten Leute so lange wie möglich Zuhause bleiben können«, sagt Steffi S. von der Sozialstation des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Wennigsen bei Hannover. Der Dienst betreut etwa 100 Patientinnen und Patienten im Ort. 

 
"So viel möglich selber machen" Ambulante Pflege braucht Zeit

»Die ambulante Pflege ist genau mein Ding. Aber natürlich ist die Arbeit mies bezahlt, keine Frage.«

Steffi S., Pflegehelferin

Die Pflegehelferin schiebt den Rentner im Rollstuhl ins Badezimmer. »Herr Barmer, bitte einmal Zähneputzen.« Sie drückt ihm die elektrische Zahnbürste in die Hand. Danach reibt sie ihm mit einem grünen Waschlappen über den Rücken, rubbelt mit dem Handtuch hinterher. »Bitteschön, jetzt sind Sie dran.« Der 88-Jährige wäscht sich selbst das Gesicht und hinter den Ohren. Die Patient/innen sollen so viel wie möglich selbst machen, darauf legt Steffi S. wert. Während sie ihm den Rücken eincremt und einen Strickpullover anzieht, reden sie über alten Zeiten. Wie Rudolf Barmer damals seine Frau in einem Fotoladen kennengelernt hat, wohin sie in den Urlaub gefahren sind, Frankreich, Spanien, Portugal, alles mit dem Fiat.

Dann muss die Pflegehelferin weiter, der nächste Patient wartet. Für eine große Pflege inklusive Waschen von oben bis unten, Zähneputzen und Anziehen sind 23 Minuten vorge-sehen. Jede Minute länger bringt den strikten Zeitplan durcheinander. Zum Abschied legt Steffi S. ihren Arm um den alten Herrn, hält lange seine Hand. »Steffi ist unsere Beste«, sagt Rosmarie Barmer.

 

»Die schlechte Bezahlung sorgt für Unzufriedenheit. Vor allem, weil sich dafür kein Personal findet. Bei der Berufswahl ist es jungen Leuten wichtig, wie viel sie wo verdienen.«

Anja H., Betriebsrätin

Bei der Sozialstation in Wennigsen sind ein paar Kolleginnen im Urlaub, eine Pflegekraft ist krank. Das reicht, um alles durcheinander-zubringen. Alle sind im Stress. Gabi D. machen vor allem die geteilten Dienste zu schaffen. Die Pflegefachkraft arbeitet von 6 bis 10 Uhr, später noch einmal von 17 bis 20 Uhr. In der Pause dazwischen kommt die 54-Jährige nicht richtig zur Ruhe. »Ich kann nicht abschalten, wenn ich weiß, dass ich nochmal los muss.«

»Wir versuchen unser Möglichstes«, sagt die stellvertretende Leiterin, Katja Müller. »Aber wir finden keinen Nachwuchs.« Für eine freie Stelle gebe es oft keine einzige Bewerbung. Deshalb müssten die Kolleginnen auch mal zwölf Tage am Stück arbeiten und viele Überstunden machen. Was tun? »Der Beruf muss attraktiver werden«, betont Katja Müller. »Die Arbeit in der Pflege ist komplett unterbezahlt. Und zwar überall. Egal, ob ambulant oder im Heim.«

Mit ver.di etwas verändern

 
Amulante Pflege: Unterbezahlte Schwerstarbeit

Mit einer vollen Stelle als Pflegehelferin kommt Steffi S. auf 1.400 Euro netto. Alle sind sich einig, dass sich beim Gehalt dringend etwas tun muss. »Weil wir mehr Personal brauchen«,
so Gabi D.. Oft sei die Rede von Nächstenliebe. Aber Wertschätzung müsse auch sichtbar sein, findet die Fachkraft. Schließlich müssten sie Miete zahlen. Und der Job sei körperlich enorm anstrengend: Die Pflegerinnen heben schwer, gehen ständig in die Hocke. Nach einem zweiten Bandscheibenvorfall stand für Gabi D. fest: »So kann es nicht weitergehen.« Kurz überlegte sie, ihren Beruf zu wechseln. Doch dafür mag sie ihre Arbeit zu gerne. Deshalb ist die 54-Jährige jetzt bei ver.di eingetreten. Um etwas an den Zuständen zu ändern.

 

»Ich empfinde meine Arbeit als sehr befriedigend. Nach Feierabend weiß ich, dass ich etwas Sinnvolles getan habe. Doch die Personalknappheit belastet uns alle sehr.«

Gabi D., Pflegefachkraft

Die Gewerkschaft soll dabei helfen, einen Haustarifvertrag durchzusetzen. Die Rettungssanitäter beim DRK haben den Anfang gemacht, es folgten die Erzieherinnen. »Jetzt sind wir dran«, sagt die Betriebsrätin Anja Hagendorff. Ziel sei eine einheitliche Bezahlung für alle Kolleginnen – und mehr Geld. Doch ver.di führe die Tarifverhandlungen nur, wenn sich genug Beschäftigte organisierten. »Daran hapert es noch.« Beim Gedanken an Streik wehrten die meisten Pflegerinnen sofort ab: Sie könnten ihre Patientinnen und Patienten doch nicht im Stich lassen. Dabei sei das Gegenteil der Fall, meint die Betriebsrätin. Die Personalnot führe dazu, dass die zwölf Sozialstationen der DRK-Region Hannover viele Patienten ablehnen müssten. Bei anderen Pflegediensten sehe es ähnlich aus. »Hätten wir lieber früher mal ein, zwei Tage gestreikt. Jetzt sind viele Leute komplett unversorgt.«

Dabei sei die Pflege ein toller Beruf, betont Steffi S.. In der Branche arbeiten viele Quereinsteiger, vor allem Mütter. Sie selbst machte zunächst in einem Altenheim die Zimmer sauber. Bis die Chefin sie fragte, ob sie nicht Pflege machen möchte. Zuerst konnte sich Steffi S. das nicht vorstellen. Fremde Menschen waschen? Viel zu intim. Doch sie probierte es aus – und fand Freude daran. Vor allem an der ambulanten Pflege. »Ich liebe es«, sagt die Pflegkraft. Das selbständige Arbeiten, den engen Kontakt zu den Patient/innen. »Die alten Leute geben einem so viel wieder.« Klar, manchmal meckerten sie auch rum, räumt die Pflegerin ein. Vor allem demente Männer seien mitunter aggressiv. Und natürlich sei es nicht in allen Wohnungen schön und sauber. »Aber damit kann ich leben. Nach einer halben Stunde bin ich wieder weg.«

 
Pflegehelferin Steffi S., 49, macht ihre Arbeit mit Herz. Dabei legt sie Wert darauf, dass die Patienten so viel wie möglich selbst übernehmen. Das hält fit.

Die Pflegehelferin macht berufsbegleitend eine Ausbildung zur Pflegefachkraft. Neben ihrem Vollzeitjob geht die 49-Jährige zwei Mal pro Woche zur Schule, jeweils von 7:45 Uhr bis 15:45 Uhr. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Danach darf sie auch Spritzen setzen, Wunden versorgen und Verbände wechseln. Die ambulanten Fachkräfte haben den Gesundheitszustand der Patient/innen rundum im Blick, stehen in engem Kontakt mit dem Hausarzt. 

Bei Bernd Singer wechseln Pflegekräfte regelmäßig die Katheder. Seit einem Hirnschlag liegt der 82-Jährige im Bett oder sitzt im Polstersessel am Fenster. Seine Frau pflegt ihn. Die 79-Jährige flitzt nur mal schnell zum Supermarkt. Für Orchester oder Kegelverein hat sie keine Ruhe. Ohne ihre Hilfe kann der Rentner weder aufstehen noch trinken. Doch in ein Heim mag sie ihn nicht geben. »Wir sind seit 57 Jahren verheiratet«, sagt Gertrud Singer. »In guten wie in schlechten Zeiten.« Für die 79-Jährige steht fest: »Die Sozialstation ist Gold wert.« Steffi S. stellt eine Plastikschüssel mit warmem Wasser auf die Holzkommode, wäscht den alten Mann. Als sie mit dem Lappen über seinen Rücken rubbelt, sagt Bernd Singer: »Ordentlich fest, bitte.« Er lächelt: »Oh, das tut gut. Das tut so super gut.« Zum Abschied gibt er Steffi S. einen Handkuss. Die Pflegerin springt in ihren weißen Kleinwagen und düst davon. Ihre Schicht endet um 11 Uhr. »Jetzt habe ich erst einmal Feierabend.« Erst einmal. Um 17 Uhr fährt sie noch eine Tour.

*Namen von Patient/innen und Angehörigen geändert

 

  • Lesetipp: Potenzial für schlagkräftige Interessenvertretung
    Schroeder: Interessenvertretung in der Altenpflege

    Was hindert Beschäftigte in der Altenpflege daran, mit Hilfe der Gewerkschaft für bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung einzutreten? Ein Grund ist laut dem Politologen Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel: Die meisten sind noch nicht mit ver.di in Kontakt gekommen. Dabei kann sich immerhin jede dritte Altenpflegekraft gut oder sehr gut vorstellen, an einem Streik teilzunehmen. Das Potenzial für eine schlagkräftigere Interessenvertretung ist also da. Das gilt es zu nutzen.

    Wolfgang Schroeder: Interessenvertretung in der Altenpflege. Zwischen Staatszentrierung und Selbstorganisation. Wiesbaden, Springer VS. 2018, 248 Seiten, 44,99 Euro. ISBN: 978-3-658-19406-2

     

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