Die Pflege ist für Jörg L. ein Traumberuf. Das merkte er bei einem Freiwilligen Sozialen Jahr in der ambulanten Altenpflege. »Es gibt mir was, Menschen zu helfen, man bekommt viel Dank zurück.« Drei Jahre machte der heute 30-Jährige in einer Klinik im Rhein-Main-Gebiet eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Doch am Ende rasselte er durch die Abschlussprüfung. Ein persönlicher Rückschlag – und eine weitere fehlende Fachkraft.
»In der Pflegeschule wurden viele interessante Inhalte vermittelt«, sagt Jörg. Doch in der Praxis hatte er Schwierigkeiten, brauchte manchmal länger als es die Hektik zuließ. »In der Schule wird uns beigebracht, wie wichtig es ist, mit den Patienten zu kommunizieren und ihre Ressourcen zu fördern, aber auf der Station ist es ist wie am Fließband.« Es fiel ihm schwer, die Examinierten um Erklärungen und Hilfe zu bitten. »Man sieht ja, wie viel zu tun ist, da will man sie nicht ständig belästigen«, meint Jörg, der sich selbst als eher schüchtern beschreibt. So blieben Fragen und Unsicherheiten, die ihn bei der Prüfung noch nervöser machten.
»Es hat mir immer viel gebracht, wenn jemand zusieht, wie ich Patienten versorge, und mir dann Tipps gibt«, betont Jörg. Davon hätte er mehr gebraucht. Doch so scheiterte er in der Prüfung, auch als diese ein halbes Jahr später wiederholt wurde.
Oft ist viel früher Schluss. »Bei unserem aktuellen Examenskurs ist fast ein Drittel schon in der Probezeit ausgeschieden«, berichtet Gertrud Krieger, freigestellte Praxisanleiterin am Klinikum Worms. Sie führt das unter anderem auf den »Realitätsschock« zurück, den viele bei ihrem ersten praktischen Einsatz erleben. »In der Theorie klingt alles gut, aber auf den Stationen werden die Schüler vom ersten Tag an gehetzt und ausgebeutet.« Wegen des Personalmangels bleibt es oft bei kurzen Einweisungen, dann müssten die Azubis »funktionieren«. Die Folgen seien Überforderung und Unsicherheit.
Die Praxisanleiter/innen auf den Stationen seien zumeist hoch motiviert und hätten tolle Ideen, betont Krieger. »Aber wenn sie eine strukturierte Anleitung geplant haben, kommt viel zu oft die Pflegedienstleitung und zieht eine Kraft für eine andere Station ab.« Am Klinikum Worms will der Betriebsrat nun eine Vereinbarung erreichen, die unter anderem Zeit für strukturierte Praxisanleitung garantiert. »Es muss sich was ändern, denn sonst sehe ich für die Zukunft schwarz«, so Krieger.
Das gilt auch für die Schulen, wo die Lehrkräfte »oft am Limit sind«, wie der Pflegepädagoge Dirk Schilder aus Münster berichtet. Gerade lernschwächere Auszubildende bräuchten angesichts der anspruchsvollen Inhalte mehr Unterstützung. »Doch eine individuelle Betreuung ist unter den Bedingungen kaum möglich.«
Für Maria Ender von der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) bei Vivantes in Berlin ist der Praxistransfer entscheidend. »Die Leute lernen in der Schule Dinge, die sie auf den Stationen wegen der Belastung nicht umsetzen können«, kritisiert die Altenpflegerin. »Das führt zu Frust und lässt manche aufgeben.« Auch der Krankenpflege-Azubi Maximilian Hoever aus Siegburg sieht in der Praxis die größten Probleme. »Manchmal muss man den Leuten etwas nicht nur ein Mal zeigen, sondern mehrfach. Dafür muss Zeit sein«, fordert der Vorsitzende der Konzern-JAV der Helios-Kliniken.
Das hätte auch Jörg geholfen. Er will den Traum vom Pflegeberuf trotz allem nicht aufgeben und plant, eine Ausbildung in der Altenpflege zu beginnen. Anderthalb Jahre werden ihm dann angerechnet. »Ich habe viel gelernt und bin mir sicher: Dieses Mal werde ich es schaffen.«
»Ich sehe die größten Probleme in der Praxis. Deshalb ist die Praxisanleitung so wichtig, um den Leuten Sicherheit zu geben. Bei uns gibt es eine freigestellte Praxisanleiterin für fast 60 Auszubildende, die kommt kaum hinterher. Denn manchmal muss etwas nicht nur ein Mal zeigen, sondern mehrfach. Dafür muss Zeit sein. In der Prüfung steht man unter großem Druck. Da kann es sinnvoll sein, auch mehrmals ein Probe-Examen zu machen. Auszubildende werden zum Teil als billige Arbeitskräfte gesehen. Zum Beispiel wenn sie kurzfristig auf einer anderen Station aushelfen sollen. Zum Teil fehlt auch die Wertschätzung. Das drückt sich beispielsweise darin aus, dass wir von vielen immer noch "Schüler" genannt werden statt "Auszubildende". Die Pflege-Ausbildung machen ja auch viele Ältere, die schon Kinder haben. Für sie ist es besonders schwer, Schichtdienst, Lernen und Familie unter einen Hut zu kriegen. Es sollte doch eigentlich kein Problem sein, die Dienstzeiten an ihre Bedürfnisse anzupassen. Das würde die Ausbildung und den Pflegeberuf attraktiver machen.«
Maximilian Hoever (21) macht eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Er ist Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) am Helios-Klinikum Siegburg und der Konzern-JAV bei Helios.
»Man muss die Menschen da abholen, wo sie stehen, und ihnen individuell helfen. Zum Beispiel gibt es Leute mit Sprachbarrieren, die in der Probezeit scheitern, obwohl sie sehr engagiert sind und eine super Praxisbewertung haben. Für sie muss es eine Sprachförderung mit Freistellung geben. Die Leute lernen in der Schule Dinge, die sie auf den Stationen wegen der Belastung nicht umsetzen können – zum Beispiel in Fragen der Hygiene. "Guck mal nicht so genau hin, in der Prüfung musst du das anders machen", heißt es dann. Das führt zu Frust und lässt manche aufgeben. Eine strukturierte Anleitung ist entscheidend. Dafür müssen die Praxisanleiter aber auch zusammen mit den Auszubildenden im Dienstplan eingeteilt werden. Diese und andere Fragen wollen die JAV und der Betriebsrat bei Vivantes in einer Betriebsvereinbarung regeln. Doch der Arbeitgeber scheint daran kein Interesse zu haben. Das kann ich nicht nachvollziehen. Denn es lohnt sich: Wer jetzt für eine gute Ausbildung sorgt, hat in Zukunft genug Fachkräfte.«
Maria Ender (24) macht eine Ausbildung zur Altenpflegerin und ist Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) bei Vivantes in Berlin.
»Dass Jugendliche ihre Ausbildung abbrechen, hat vielfältige Gründe. Oft haben sie falsche Vorstellungen vom Pflegeberuf. Darüber sollte im Vorhinein besser aufgeklärt werden. Auch Praktika sind in jedem Fall sinnvoll. Doch es gibt auch diejenigen, die in der Pflege richtig sind und über gute praktische Fähigkeiten verfügen, in der Theorie aber Schwierigkeiten haben. Gerade lernschwächere Auszubildende brauchen angesichts der anspruchsvollen Inhalte mehr Unterstützung. Doch eine individuelle Betreuung ist unter den Bedingungen kaum möglich. Denn die Lehrkräfte sind oft am Limit. 45 Minuten für die Vor- und Nachbereitung einer Doppelstunde reichen nicht, um sich gute didaktische Konzepte zu überlegen. Lehrerinnen und Lehrer brauchen mehr Zeit – auch, um guten Kontakt zu den Stationen zu haben und die Schüler dort zu unterstützen. So können Theorie und Praxis besser verzahnt werden. Klar: Das kostet Geld. Aber es kann ein wichtiger Baustein sein, den Fachkräftebedarf für die Zukunft zu sichern.«
Dirk Schilder (55) ist Pflegepädagoge in Münster und Sprecher des Arbeitskreises Pflegelehrer/innen von ver.di in Nordrhein-Westfalen
»Bei unserem aktuellen Examenskurs ist ein Drittel schon in der Probezeit ausgeschieden. Die Gründe sind ganz unterschiedlich. Unter anderem liegt es an dem "Realitätsschock", den viele bei ihrem ersten praktischen Einsatz erleben. In der Theorie klingt alles gut, aber auf den Stationen werden die Schüler vom ersten Tag an gehetzt und ausgebeutet. Wegen des Personalmangels bleibt es oft bei kurzen Einweisungen, dann müssen sie "funktionieren". Die Folgen sind Überforderung und Unsicherheit. Angesichts solcher Bedingungen sind viele nicht bereit, in der Pflege zu bleiben. Denn sie haben genug Möglichkeiten und suchen sich einen anderen Beruf. Die junge Generation will nicht nur für die Arbeit leben und nimmt nicht alles hin. Das finde ich eigentlich auch gut so, aber bei manchen Älteren stößt das auf Unverständnis. Da muss sich auch an der Einstellung etwas ändern.
Als freigestellte Praxisanleiterin bin ich für vier Stationen zuständig. Für jeden Schüler habe ich während der gesamten Ausbildungszeit zehn Tage, die ich mit ihm üben kann. Bei schwächeren Schülern sind es auch mal elf oder zwölf Tage. Doch manche bräuchten mehr. Die Praxisanleiter auf den Stationen sind zumeist hoch motiviert und haben tolle Ideen. Aber wenn sie eine strukturierte Anleitung geplant haben, kommt viel zu oft die Pflegedienstleitung und zieht eine Kraft für eine andere Station ab. Am Klinikum Worms wollen wir deshalb eine Betriebsvereinbarung erreichen, die unter anderem Zeit für strukturierte Praxisanleitung garantiert. Wir orientieren uns dabei an dem ver.di-Tarifvertrag für die baden-württembergischen Unikliniken. Für mich steht fest: Es muss sich was ändern, denn sonst sehe ich für die Zukunft schwarz.«
Gertrud Krieger (59) ist Kinderkrankenpflegerin und arbeitet seit 20 Jahren als freigestellte Praxisanleiterin am Klinikum Worms.