Im Büro steckt Salih Yilmaz den Kopf durch die Tür, hält ihre rechte Hand mit den schwarzlackierten Fingernägeln hoch und verzieht das Gesicht: »Mein Finger tut todesweh.« Die 19-Jährige ist auf einer Treppe hingefallen, hat sich den Zeigefinger verknackst. Sozialarbeiterin Hella K. steht vom Computer auf: »Sind Sie krankenversichert?« Die junge Frau in knallenger roter Satinhose nickt. »Wollen Sie zum Arzt – oder erst einmal ein Kühlakku?« Salih Yilmaz drückt kurz ein blaues Kältepad auf die Hand und gibt ihren Zimmerschlüssel ab: »Ich melde mich ab. Ich geh’ zu Penny rüber.« Süßigkeiten kaufen. Seit einem Monat lebt Salih Yilmaz in einer Kriseneinrichtung für Frauen in Berlin-Reinickendorf. Außer einer Reisetasche hat sie nichts mitgebracht: Das Mädchen ist Hals über Kopf vor ihrer Familie geflohen. Sie fürchtete, bei einem Kurztrip in die Türkei zwangsverheiratet zu werden. Die meisten Frauen, berichtet Sozialarbeiterin Hella K., stünden nur mit einem Koffer vor der Tür. Wenn überhaupt. Viele kommen ohne Geld, ohne Personalausweis, haben weder Krankenversicherung noch Bankkonto.
Einige Frauen wurden Zuhause rausgeworfen, andere sind selbst geflüchtet. Vor ihren Eltern oder Männern. Alle haben schlimme Dinge erlebt – und wissen nicht, wohin in ihrer Not. In dem denkmalgeschützten Haus bekommen sie Hilfe, rund um die Uhr. Die Sozialarbeiterinnen unterstützen die Frauen dabei, ihr Leben neu aufzubauen. Stück für Stück. »Wir sind so etwas wie eine Clearingstelle«, berichtet Hella K.. »Wir schauen, was die Frauen brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.« Voraussetzung ist, dass sie keine Wohnung haben und sich in einer akuten Krise befinden. Die Einrichtung verfügt über 16 Plätze. Träger ist die Bürgerhilfe gGmbH.
Die meiste Zeit verbringen die Sozialarbeiterinnen im Büro. Jeden Tag erstellen sie lange To-Do-Listen, was für jede Bewohnerin zu erledigen ist: Frau Halima aus Bangladesch zum Beispiel wurde von ihrem Mann vor die Tür gesetzt. Sie hat kein Bankkonto, spricht kaum Deutsch, fürchtet um ihr Aufenthaltsrecht. Die Sozialarbeiterinnen versuchen unter anderem, für sie einen Termin bei einer Anwältin für Ausländerrecht zu bekommen. Für Frau Meier gilt es, einen Termin beim Neurologen zu verabreden. Sie kippt oft einfach um.
Bei Frau Sevilir steht die Notiz: »Fragen, ob sie etwas gegessen hat.« Die 25-Jährige leidet unter Realitätsverlust, fürchtet, das Essen sei vergiftet. Frau Schneider braucht einen Termin beim Therapeuten. Sie ist vor ihrer Familie geflohen, die Eltern haben Rache geschworen. Deshalb der Hinweis: »Bitte Sicherheitsvorkehrungen beachten.« Und so weiter. Hella K. und ihre Kollegin Marion Q., 24, klemmen sich hinters Telefon, tippen Mails.
Die Frauen erhalten einen falschen Namen, wenn sie von Gewalt bedroht sind. Zur ihrem Schutz. Wenn es an der Tür klingelt, gilt der Blick zuerst dem Monitor neben der Tür. Und wenn jemand nachts die Haustür von innen öffnet, schrillt ein Alarm los. »Damit niemand einfach so hier reinkommt«, erklärt Hella K.. In der Kriseneinrichtung gibt es Doppel- und Einzelzimmer, Bad teilen sich die Frauen, ebenso Küche und Wohnzimmer. Einmal pro Woche liefert die Tafel mehrere Kisten voll Joghurts, Milch, Kartoffelsalat, Gebäck und Gemüse. Auf dem Küchentisch stapelt sich gerade Spargel, unberührt. »Die Frauen müssen selbst kochen und putzen«, sagt Hella K..
Regel Nr. 1 lautet: Gewalt ist tabu. Zum Glück kommt die selten vor. Hin und wieder gibt es Zoff zwischen den Bewohnerinnen, mitunter werden die Sozialarbeiterinnen auch wüst beschimpft, doch in der Regel macht jede Frau ihr eigenes Ding. Das Haus am Oraniendamm ist für alle nur eine Übergangslösung. Aufgabe der Fachkräfte ist es, die Frauen an andere Einrichtungen weiterzuvermitteln. Dafür muss geklärt werden, wie viel Betreuung sie benötigen. In den meisten Frauenhäusern und Wohnprojekten sind Betreuerinnen nur tagsüber an Werktagen erreichbar. »In Krisensituationen weiß man oft nicht, wann es wieder einen Auslöser gibt«, berichtet Marion Q.. »Oft bekommen Frauen nachts Panikattacken, wenn sie alleine im Bett liegen.« In dem Haus ist immer jemand ansprechbar. Das Team arbeitet im Drei-Schicht-Dienst.
Einige Frauen sind psychisch krank, andere sind drogensüchtig. »Wir nehmen alle auf, die sich auf eine Betreuung bei uns einlassen«, betont Hella K.. In solchen Fällen dauert es etwas länger, die Frauen an spezielle Einrichtungen weiterzuvermitteln. Doch in der Regel bleiben die Bewohnerinnen zehn Tage bis sechs, acht Wochen. Meist hängt es davon ab, wie lange der jeweilige Bezirk genehmigt. Sehr viel Zeit geht dafür drauf, die Kostenübernahme zu klären. Der Grund: »Wir sind eine sehr teure Einrichtung.« Der Tagessatz liegt bei 129 Euro. Acht Sozialarbeiterinnen arbeiten im Tagdienst bis 22 Uhr, plus sieben Hilfskräfte in der Nacht. Einen Tarifvertrag gibt es nicht. Das Einstiegsgehalt orientiert sich am Tarifvertrag der Länder (TV-L).
Das Personal in der Kriseneinrichtung wechselt oft. Kaum eine Fachkraft bleibt länger als zwei Jahre. Zu schaffen macht ihnen der Schichtdienst. Und der Stress. »Die Arbeit ist sehr dicht«, sagt Hella K.. Ihre Kollegin fügt hinzu: »Man ist ständig gefordert, kann sich nicht mal fünf Minuten ausklinken.« Und trotzdem: Die Sozialarbeiterinnen machen ihre Arbeit sehr gerne.
»Es ist schön zu sehen, wie sich die Frauen entwickeln«, sagt Marion Q., »wie schnell sie Fortschritte machen, ihr Leben wieder in die Hand nehmen.«
Auch Salih Yilmaz hat viele Pläne. Die 19-Jährige verkündet: »Ich werde Schauspielerin. Und Sängerin. Und Tänzerin.« Doch zunächst wartet sie darauf, dass sie in eine betreute Wohngruppe ziehen kann. Solange sitzt sie mit einer Tüte voller Kaubonbons im Wohnzimmer und guckt Soaps. Salih Yilmaz ist stolz, dass sie von Zuhause weggelaufen ist. Sie habe es schon länger vorgehabt. »Aber mir hat immer der Mut gefehlt.« Jetzt hat sie es geschafft. »Dafür muss man schon stark sein«, findet die junge Frau. Und man braucht etwas Hilfe.