Reportage

Ein Haus für alle Fälle

20.03.2020

Auch wer anderswo Probleme macht, ist im Haus Kana willkommen: Das Bielefelder Bethel-Wohnheim hilft Menschen mit starken Verhaltensauffälligkeiten, im Alltag zurecht zu kommen.

 
Im Gespräch: Zeit für die Klient*innen zu haben, ist wichtig

Mit einem Tee sitzt Sarah Kramer* auf dem Ledersofa im Aufenthaltsraum des Wohnheims und guckt eine Musikshow im Fernseher, als die Pflegerin Tonja B. ihren Kopf durch die offene Tür steckt: »Hast du Lust, mit zu den Hühnern zu gehen?« Die 24-Jährige nickt und springt sofort auf, ihre Augen strahlen. Die Pflegefachkraft schließt die junge Frau in den Arm, gibt ihr einen Kuss auf die Haare. Hand in Hand spazieren sie über den Rasen zum Hühnerstall. Durchs Fenster blickt ihnen Bereichsleiterin Anke B. im Haus Kana der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld-Eckardtsheim hinterher: »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass Frau Kramer in keiner Einrichtung bleiben konnte, weil sie immer wieder aggressiv war und durch schwieriges Verhalten auffiel.«

 
Der Ausflug zum Hühnerstall bereitet Sarah Kramer Freude

In dem Wohnheim der Behindertenhilfe werden Erwachsene betreut, die stark verhaltensauffällig sind und viel individuelle Unterstützung benötigen. Menschen mit akutem Hilfebedarf, die plötzlich aufhören zu essen oder zu laufen – und niemand weiß, warum. Oder die in anderen Einrichtungen für zu viele Probleme gesorgt haben.

 

Über den Flur schlurft eine ältere Frau, sie rüttelt heftig an ihrem Rollator, schimpft laut vor sich hin und schmeißt alle paar Schritte ihre Mütze auf den Boden. In der Küche lässt sie sich auf einen Stuhl fallen und hält sich die Ohren zu. Währenddessen wirft Sarah Kramer draußen gutgelaunt den Hühnern ein paar Körner zu, streichelt einer Henne über die goldbraunen Federn. Ein älterer Bewohner in Gummistiefeln zupft lächelnd Grashalme aus der Wiese und wirft sie über den Zaun ins Gehege. »Von einem Extrem zum anderen«, sagt die Bereichsleiterin, »dazwischen tobt das Leben.«

Im Haus Kana leben 32 Bewohnerinnen und Bewohner in Einzelzimmern. Für ihre Betreuung rund um die Uhr stehen 23 Vollzeitstellen zur Verfügung, verteilt auf rund 45 Beschäftigte. Etwa 60 Prozent sind mit Fachkräften besetzt, dazu zählen Pflegefachkräfte, Erzieher*innen, Heilerziehungspfleger*innen und Sozialpädagog*innen. Die Quote ist seit Jahren recht stabil.

 

Selbstständigkeit wird gefördert

Der reguläre Dienst beginnt um 6.30 Uhr. Pro Schicht sind mindestens fünf Kolleg*innen im Einsatz, davon zwei Fachkräfte. Nur sie dürfen Medikamente ausgeben oder Arztbesuche begleiten. Morgens unterstützt das Team die Bewohnerinnen und Bewohner dabei, sich für die Arbeit in den Werkstätten fertig zu machen.

 
Pflegerin Tonja B, macht ihre Arbeit mit viel Herzblut. Sie weiß, dass Menschen mit akutem Hilfebedarf viel Zuwendung brauchen.

 Ob Zähne putzen, Kleidung anziehen oder Brot schmieren, im Haus gilt: Die Klientinnen und Klienten sollen so viel wie möglich alleine erledigen – auch wenn es länger dauert. »Wir wollen sie in ihrer Selbstständigkeit fördern«, betont Paulina Höhner, Auszubildende zur Heilerziehungspflegerin. Bis der Fahrdienst um 8 Uhr anrollt, hat das Team alle Hände voll zu tun. »Wenn jemand einen Anfall bekommt, kann sich so etwas in die Länge ziehen.«

Ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner bleibt den ganzen Tag im Wohnheim. Weil sie psychisch nicht in der Lage sind, das Haus zu verlassen, weil sie krank sind oder einfach keine Lust haben. Die Pflegekräfte begleiten sie zum Arzt oder nehmen sich Zeit für Gespräche. Hinzu kommen Therapietermine. Um 14 Uhr beginnt der Spätdienst. Nach und nach kehren die Bewohnerinnen und Bewohner aus den Werkstätten zurück. Die Pflegekräfte widmen sich nachmittags deren individuellen Zielen. Eine Kollegin übt mit einer Bewohnerin, wie sie die Waschmaschine bedient, eine andere überlegt mit einer jungen Frau, wie sie am besten abnehmen kann und schnippelt mit ihr Obstsalat. Auch Schwimmen oder Kino stehen auf dem Programm. Dafür braucht es genug Personal. Doch der Fachkräftemangel macht sich auch im Haus Kana bemerkbar. Es dauert immer länger, bis Stellen besetzt werden können. Wenn eine Grippewelle dazu kommt, ist mitunter das Personal knapp. »Und es geht nur noch um das Notwendigste«, sagt Tonja B., gelernte Kinderkrankenschwester. »Dann habe ich immer ein schlechtes Gewissen. Weil ich weiß, wie gut die Aktivitäten ihnen tun.« Generell gelte: Je weniger Zeit sie den Klientinnen und Klienten widmeten, umso hibbeliger würden sie – und umso länger dauere es, sie wieder runterzubringen.
Täglich kommt es vor, dass jemand aus dem Team beschimpft oder beleidigt, mintunter sogar angegriffen wird. Immer mal wieder muss die Polizei anrücken, weil es zu Gewalt oder Brandstiftung kommt. »So etwas ist nie planbar«, betont Anke B.. »Dafür braucht es ein gutes Team, das so eine Situation einschätzen und sich aufeinander verlassen kann. Sonst wird es gefährlich.«

 

Tonja B. berichtet, dass es anstrengend ist, mit psychisch kranken Menschen zu arbeiten. Zumal die Fälle immer schwerer werden. Bereichsleiter Frank H. spricht von einer »Ambulantisierung«. Früher seien viel mehr Klientinnen und Klienten stationär betreut worden. Die leichteren Fälle hätten die Arbeit auf-gelockert. Jetzt gilt: Wer kann, wird ambulant betreut. Für viele sei das auch sehr gut, sagt er. Doch im Wohnheim verändere sich dadurch die Dynamik. Fürs Team steige die Belastung.

 
Keine Standardbetreuung: Bereichsleiter Frank H. und sein Team gehen individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen ein.

BTHG sorgt für Verunsicherung

Christian Janßen von der Mitarbeitervertretung vermutet, dass bei dieser Entwicklung auch die Kosten eine Rolle spielen: Eine ambulante Betreuung sei für den Kostenträger oft günstiger als eine Rundumversorgung im Wohnheim. Seit einigen Jahren steige auch in der Behindertenhilfe der Kostendruck, betont der Gewerkschafter. Das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) sorge für große Verunsicherung. Im Januar wurde die Finanzierung der Einrichtungen komplett umgestellt. Fachleistungen und Hilfe zum Lebensunterhalt werden fortan getrennt bezahlt, von unterschiedlichen Kostenträgern. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen ihr Geld selbst einteilen, Voraussetzung ist ein eigenes Girokonto. »Damit können viele gar nicht umgehen«, berichtet Christian Janßen. Auch Angehörige fühlten sich überfordert – und gäben die Verantwortung schweren Herzens ab. Der Psychologe schätzt, dass 90 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner unter gesetzlicher Betreuung stehen. »Die Zahlen sind in die Höhe geschnellt.«
Sie würde sich wünschen, sagt Tonja B., dass Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung erhalten. »Aber ich bin skeptisch, dass das neue Gesetz dazu führt.« Die Fachkräfte fürchten, dass ihre Leistungen künftig restriktiver abgerechnet werden. Hinzu kommt, dass sie viel mehr Bürokratie bewältigen müssen. Die Zeit dafür fehlt anderswo.
Im Wohnzimmer hat Michael H. vom Musiktherapeutischen Dienst seine Gitarre ausgepackt. Er hält ein Bild mit einem Pferdekopf hoch, das mit Filzstiften bunt angemalt ist. Sarah Kramer hat es ihm zum Geburtstag geschenkt. Er singt: »So ein schönes Pferd, wie es guckt und die Ohren spitzt.« Mehrere Bewohnerinnen sitzen auf dem Sofa, zunächst noch ganz still. Nach und nach stimmen immer mehr ein, wippen im Takt der Melodie mit. In der Tür steht die Bereichsleiterin und lächelt. »Wenn man sich vorstellt, was für eine Klientel dahintersteckt«, sagt Anke B.. »Toll, wenn so etwas gelingt.«

*Alle Namen von Bewohner*innen sind geändert.

 

Tarifverhandlungen Sozial- und Erziehungsdienst

Mehr braucht mehr

Seit dem 5. März verhandeln ver.di und Kommunen über Verbesserungen für die rund 265.000 Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten. ver.di fordert unter anderem bessere Eingruppierungsmerkmale, andere Stufenlaufzeiten, Anerkennung von Berufserfahrung, die Berücksichtigung von Änderungen in der Behindertenhilfe und einen Rechtsanspruch auf Qualifikation. Mehr Infos hier.

 

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