Können Beschäftigte in der aktuellen Situation kollektiv für ihre Interessen eintreten? Etliche Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen haben in den vergangenen Wochen bewiesen, dass das geht. Hier einige Beispiele | Daniel Behruzi
Ende April erschienen des nachts plötzlich großflächige Fotos auf Fassaden des Bundesgesundheitsministeriums, des Bundestags und weiterer Institutionen in Berlin. Sie zeigten Beschäftigte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, die ihre Forderungen kundtun: Prämien, genug Schutzausrüstung, mehr Personal, Entlastung. Sie standen stellvertretend für viele hundert Beschäftigte, die sich an einer bundesweiten Foto-Aktion von ver.di beteiligt haben. Video zur Aktion wirbleibenhier.verdi.de.
Stell Dir vor, es wird mit zu wenig Personal geplant, und keiner geht hin. So geschehen in der Marienhausklinik im saarländischen Ottweiler. Als das Management schlechtere Schichtbesetzungen anordnete, meldete sich das komplette Team einer Intensivstation arbeitsunfähig. Zugleich machte ver.di den Skandal öffentlich und kritisierte das Vorgehen im Gesundheitsausschuss des Landtages als »lebensgefährlich, unverantwortlich und gesundheitsgefährdend«. Nach nur einer Woche mussten die Anordnung zurückgenommen und die Dienstpläne wieder in Kraft gesetzt werden. Der Pflegedirektor musste seinen Hut nehmen. »Ein Bauernopfer«, meinte der ver.di-Pflegebeauftragte Michael Quetting. Man solle die Gesundheitseinrichtungen nicht den Ökonomen überlassen. Sonst könne es sein, dass plötzlich keiner mehr da ist.
Klare Worte, eindeutige Botschaften: Die Kolleginnen, die am 12. Mai, dem Tag der Pflegenden, beim ver.di-»Townhall-Meeting« stellvertretend für tausende Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen sprachen, nahmen kein Blatt vor den Mund. Sie konfrontierten die anwesenden Regierungs- und Arbeitgebervertreter in der Internetdebatte mit ungeschminkten Berichten über die Zustände in Kliniken, Pflegeheimen und anderen Einrichtungen. Und sie artikulierten deutlich ihre Forderungen: mehr Personal, eine flächendeckend gute Bezahlung und Gesundheitsschutz.
Mit garantiertem Mindestabstand versammelten sich Kolleg*innen am 12. Mai zum Tag der Pflegenden in Chemnitz – im örtlichen Autokino. Gezeigt wurden die »Känguru-Chroniken«, mit einem kommunistischen Känguru, das einem rechtspopulistischen Immobilienhai ein Bauprojekt in Berlin-Kreuzberg vermiest. Für die Teilnehmer*innen zugleich entspannend, politisch anregend und vor allem witzig. Motto: »Das haben wir uns verdient.«
»Soziale Arbeit ist unverzichtbar – immer!« Fast 29.000 Menschen haben bis Anfang Juni einen Offenen Brief mit diesem Motto unterschrieben. Sie fordern unter anderem, dass alle Bereiche der Sozialen Arbeit vollständig weiter finanziert werden. Für die bis zu zwei Millionen Beschäftigten werden genug Schutzmaterial, mehr Personal und eine »Krisen-Zulage« gefordert. Denn gerade in der Krise und darüber hinaus bräuchten Menschen Begleitung, Hilfe und Unterstützung. Das leistet die Soziale Arbeit. weiterlesen
88 Paar Schuhe – eines für jede namentlich bekannte Pflegekraft, die an Covid-19 gestorben ist. So protestierten Anfang Mai Aktivist*innen von »National Nurses United« vor dem Weißen Haus in Washington D.C.. Die Organisation schätzt die Zahl der verstorbenen Gesundheitsbeschäftigten inzwischen auf insgesamt 530. Sie wirft Präsident Donald Trump vor, nichts für den Schutz der Kolleg*innen zu tun.
Berlin I In Berlin haben die vielen Aktivitäten von Klinikbeschäftigten dazu geführt, dass die Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) mit ver.di über einen »Corona-Krankenhauspakt« verhandelt. Zum Auftakt übergaben Aktivist*innen am 20. Mai 4.528 Unterschriften von Kolleg*innen aus den öffentlichen Kliniken. Verhandelt wird nun über ihre Forderungen nach ausreichender Schutzkleidung, einem Belastungszuschlag, engmaschigen Testungen, die Rückführung der Tochterunternehmen und mehr Personal. Mündlich zugesagt hat die Senatorin bereits, dass sich das Land im Bundesrat und in der Gesundheitsministerkonferenz für die Abschaffung des Finanzierungssystems über Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) einsetzen wird. Nach jeder Verhandlungsrunde kommen die Teamdelegierten von Charité und Vivantes zu einer Videokonferenz zusammen. Jedes Team, das mehrheitlich einen Brief mit den Forderungen an die Abgeordneten unterschrieben hat, kann eine Delegierte bzw. einen Delegierten benennen.
Hannover/Stuttgart I In Niedersachsen und Bremen haben sich über 60 betriebliche Interessenvertretungen in einem Offenen Brief an die Landesregierungen gewandt. Sie fordern mehr Schutzkleidung und einen Bonus für alle Beschäftigten, aber auch einen grundlegenden Wandel: »Nötig sind eine kostendeckende Finanzierung, gesetzliche Personalstandards, bessere Arbeitsbedingungen und eine Gesundheitsversorgung in öffentlicher Hand«, erläutert ver.di-Landesfachbereichsleiter David Matrai. In Baden-Württemberg haben 316 Gremien aus allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens einen »Weckruf« mit ähnlichen Positionen unterzeichnet. Hierzu gibt es auch ein Video.
Mainz/Homburg/Berlin/Müllheim I An den Unikliniken in Mainz, Homburg, Berlin und anderswo kommen Teamdelegierte regelmäßig zu Videokonferenzen zusammen, um über Inhalte und Aktionen zu beraten. Aktive der ver.di-Jugend treffen sich zum »digitalen Stammtisch«. Bundesweit tauschen Gesundheitsbeschäftigte in Chatgruppen Informationen aus. Im Evangelischen Sozialwerk Müllheim verschicken ver.di und die Mitarbeitervertretung Newsletter über einen Messengerdienst. Diese und viele weitere Beispiele zeigen: Vernetzung und Aktivitäten laufen weiter – auch wenn vorübergehend auf physische Treffen verzichtet werden muss.