vor Ort

Gesundheit für alle

07.09.2020

Armut, Diskriminierung, Einsamkeit: Die sozialen Verhältnisse können krank machen. Deshalb baut das Berliner Gesundheitskollektiv in Neukölln ein alternatives Zentrum auf. Tür an Tür soll ein multiprofessionelles Team lebensnahe Hilfe bieten – und Barrieren abbauen | Kathrin Hedtke

 
Jahrelang hat das Kollektiv darüber diskutiert, wie das neue Gesundheitszentrum aussehen soll. Shao-Xi Lu zeigt ein kleines Modell, in echt erstrecken sich die beiden Etagen über 400 Quadratmeter.


Hinter dem Parkplatz eines Supermarkts mitten in Neukölln hockt Shao-Xi Lu in einem Gemeinschaftsgarten auf einer Holzbank und zeigt auf die Baustelle nebenan: Wo ein orangefarbener Bagger in die Erde gräbt, entsteht das Stadteilgesundheitszentrum des Berliner Gesundheitskollektivs, kurz GeKo. »Manchmal kann ich es selbst kaum glauben«, sagt die Physiotherapeutin. Zwei Schmetterlinge flattern in der Mittagshitze um die Hochbeete herum, lautes Dröhnen, Brummen und Hämmern erfüllt die Luft auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei. Jahrelang diskutierte das Kollektiv, wie eine gute Gesundheitsversorgung für alle aussehen muss. Dabei sei ihnen schnell klar geworden, dass die sozialen Verhältnisse eine große Rolle spielen, sagt Ärztin Johanna Henatsch. Wie arbeiten die Menschen? Wie wohnen sie? Erleben sie Diskriminierung, Rassismus, Einsamkeit? »Viele Probleme kann ich als Ärztin alleine nicht lösen«, sagt die 39-Jährige.

 
Viele Menschen schrecken vorm Arztbesuch zurück, sie fühlen sich nicht richtig verstanden oder von oben herab behandelt.

»So etwas muss man zusammen machen«

Deshalb sind die Aktivist*innen des Gesundheitskollektivs überzeugt: »So etwas muss man zusammen machen«, so Shao-Xi Lu. Die 37-Jährige hebt ein kleines Modell des Zentrums aus Pappe hoch: Auf zwei Etagen gibt es Räume für Allgemein- und Kinderärzt*innen, aber auch für Rechtsberatung, Sozialarbeit, Psychotherapie und ein Gemeinschaftscafé.

Beispiel: Eine Frau kommt wegen Schlafstörungen in die Sprechstunde. Die Ärztin kann Tabletten verschreiben, doch im Gespräch wird klar: Die Patientin plagen Sorgen, dass sie aus ihrer Wohnung raus muss, weil die Miete steigt. Im Gesundheitszentrum könnte sie direkt ein paar Türen weiter bei der Rechtsberatung anklopfen. »Vielleicht stellt sich auch heraus, dass überall im Stadtteil die Mieten steigen«, sagt Johanna Henatsch. »Die schönste Vorstellung wäre, dass alle zusammen auf die Straße gehen.« Ob es um die Frau geht, die ihren Job verliert, weil sie Kopftuch trägt, oder um den alten Mann, der aus Einsamkeit trinkt – für die Ärztin steht fest: »Ich wäre gerne Teil eines Teams, mit dem ich so etwas gemeinsam besprechen kann.«

Bis das Zentrum im kommenden Frühjahr fertig ist, bietet das Kollektiv kostenlose Gesundheitsberatung im Stadtteil an. Shao-Xi Lu klemmt sich zwei riesige Jutebeutel über die Schulter, darin ein Infostand aus Karton zum Zusammenstecken. Schnurstracks marschiert die junge Frau zum Rathausplatz in Neukölln, einmal quer durch den Rollbergkiez, vorbei an tristen Wohnblocks mit Sozialwohnungen, Billigläden mit Blusen für einen Euro, Dönerbuden und Sonnenstudios. Das Gesundheitskollektiv hat sich bewusst für diesen Stadtteil entschieden. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt von Hartz IV, die Armut ist groß. Im Kiez mangele es an Ärzt*innen, berichtet Shao-Xi Lu. Wer Geld mit Privatpatient*innen verdienen wolle, eröffne seine Praxis lieber in Zehlendorf.

 
»Viele Probleme kann ich als Ärztin alleine nicht lösen.« Lieber möchte Johanna Henatsch im Team gemeinsam überlegen, wie den Menschen am besten geholfen werden kann.

In ärmeren Stadtteilen, fügt Johanna Henatsch hinzu, sei die Kindersterblichkeit höher, die Lebenserwartung geringer: Daten des Robert-Koch-Instituts zufolge sterben Männer mit niedrigem Einkommen in Schnitt fast elf Jahre früher. Shao-Xi Lu berichtet, dass viele Menschen in Neukölln davor zurückschreckten, zum Arzt zu gehen. Sie hätten Sprachprobleme, fühlten sich nicht ernst genommen oder von oben herab behandelt. Ziel ist deshalb, Barrieren abzubauen.

Dahin gehen, wo die Menschen sind

Normalerweise sind die Fachkräfte in Elterncafés in der Grundschule oder im Kieztreff unterwegs. Doch wegen der Corona-Pandemie geht das derzeit nicht. Zunächst probierte das Team es mit Onlineangeboten. »Aber da hat sich gezeigt, wie sehr die Welten auseinanderklaffen.« Viele hätten keinen Computer oder zu Hause herrsche viel zu viel Trubel. Deshalb steuern die Aktiven des Gesundheitskollektivs jetzt öffentliche Plätze im Kiez an. »Das Wichtigste ist, dass wir da hingehen, wo die Menschen sind.«

Die Themen sollen sich am Bedarf orientieren. Bei einer Stadtteilbefragung gaben 34 Prozent an, sich in den letzten 14 Tagen unwohl gefühlt zu haben. »Das könnte auf Depression oder Burnout hindeuten«, sagt Psychotherapeutin Lisa Kloft vom GeKo. Direkt neben dem Brunnen vor dem Rathaus rollt sie gemeinsam mit ihren Mistreiterinnen ein Plakat aus: »Wie zeigt sich eine Depression?«, steht darauf, daneben ein Strichmännchen mit Regenwolke über dem Kopf. Ein paar Schritte weiter erneuern Bauarbeiter mit viel Getöse die Karl-Marx-Straße, ein gelber Linienbus poltert vorbei, aus einem Auto tönt arabische Popmusik, vom Grill an der Ecke weht der Geruch von Brathähnchen herüber. Lisa Kloft, 37, steht mit Shorts in der Knallsonne und lächelt übers ganze Gesicht. »Im Gespräch versuche ich, niedrigschwellig eine erste Einschätzung abzugeben«, sagt die Therapeutin. Depressionen entstünden häufig aus einem Gefühl der Hilfslosigkeit heraus, etwa bei dauerhaftem Arbeitsstress oder länger anhaltenden finanziellen Problemen.

Eine Frau bleibt stehen, sie sieht blass und müde aus, erzählt in gebrochenem Deutsch von ihren Erfahrungen mit Behörden, von Mobbing und Rassismus. Ein alter Herr mit Krückstock klagt, dass er seine Medikamente selber zahlen muss. Ein Mann mit Vollbart und Tattoos berichtet, dass er vor Jahren an Depressionen erkrankte. Seine Frau habe ihn rausgeworfen, seither lebt er auf der Straße. Wegen Suizidgedanken war er schon in einer Klinik. »Wie geht es dir jetzt?«, fragt Lisa Kloft. Hm, der Mann malt mit der Hand eine Schlangenlinie in die Luft, Höhen und Tiefen. Die Therapeutin gibt ihm einen Tipp, wo er schlafen kann. Und schreibt die Adresse vom Medibüro auf, dort werden Menschen auch ohne Krankenversicherung behandelt. Der Mann lächelt: »Danke.«

 
Am Infostand des Berliner Gesundheitskollektivs

»Auch bundesweit tut sich eine Menge«

Später wertet das Kollektiv aus, wie der Infostand gelaufen ist. Rund 15 Aktive treffen sich jeden Mittwoch zum Plenum, zum Verein gehören etwa doppelt so viele Mitglieder. Inzwischen finanziert der Berliner Senat fünf Teilzeitstellen, doch viel Arbeit geht auf ehrenamtliches Engagement zurück. Im Zentrum soll sich der medizinische Bereich selber tragen, die sozialen Angebote sind auf Spenden und Drittmittel angewiesen.

»Auch bundesweit tut sich gerade eine Menge«, sagt Johanna Henatsch. So eröffnete in Hamburg-Vettel mit der Poliklinik vor drei Jahren ebenfalls ein alternatives Gesundheitszentrum. In Leipzig, Dresden, Halle und Köln sind ähnliche Projekte im Aufbau. Der Unterschied: Anderswo fange man klein an, erst mal eine Hausarztpraxis, danach eine/n Psychologe*in dazu, später die Rechtsberatung. »Wir in Berlin sind größenwahnsinnig«, sagt die 39-Jährige und blickt auf die Baustelle, »und wollen alles auf einmal.«

 

 

Polikliniken statt Profitinteressen

Die alternativen Stadtteilgesundheitszentren in Hamburg, Berlin, Leipzig und Dresden nehmen explizit Bezug auf das Modell der Polikliniken. Historisch geht die Idee zurück ins 19. Jahrhundert. Bereits in der Weimarer Republik wurden Polikliniken zur besseren medizinischen Versorgung der Menschen gegründet. In der DDR wurden die ambulanten Gesundheitszentren als Staatsmodell populär. Wer zum Arzt musste, ging in die Poliklinik. Dort versammelten sich mindestens fünf Fachrichten unter einem Dach, darunter Kinderärzt*innen, Hausärzt*innen, Gynäkolog*innen, Augenärzt*innen, Orthopäd*innen und so weiter. Die Vorteile: Den Menschen wurden lange Wege erspart, außerdem hatten alle Ärzt*innen direkt Einblick in die Patientenakten. Sie waren nicht selbstständig, sondern erhielten ein festes Gehalt und waren beim Staat angestellt.

Kritik gab es vor allem an langen Wartezeiten, außerdem an der Anonymität. So wurde bemängelt, dass aufgrund wechselnder Dienste kaum ein Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt*innen und Patient*innen entstehen konnte. Nach der Wiedervereinigung sprach sich dennoch die Mehrheit der Ostdeutschen für den Erhalt der Polikliniken aus. Trotzdem wurde das westdeutsche Modell mit freiberuflichen Ärzt*innen auf den Osten übertragen. Die ambulanten Versorgungszentren wurden aufgelöst oder privatisiert. Teilweise blieben die Ärzt*innen mit eigener Praxis in den Gebäuden und bildeten Ärztehäuser.

Dabei liegen die Vorteile der Polikliniken auf der Hand. Deshalb wurde die Idee mit den Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) wieder aufgegriffen. Anders als in Ärztehäusern arbeiten die Ärzt*innen dort als Angestellte, nicht selten in Teilzeit. Für die Ärzt*innen entfällt die finanzielle Last einer Praxisgründung, sie arbeiten im Team, so dass die Behandlung optimal auf die Patient*innen abgestimmt werden kann. Gesundheitsexpert*innen loben die Medizinischen Versorgungszentren als Zukunftsmodell. Problematisch ist allerdings, dass deren Gründung vor allem von privaten Konzernen vorangetrieben wird, für die der Profit im Vordergrund steht.

Deshalb will die Poliklinikbewegung ein »neues, gemeinnütziges Modell für den ambulanten Gesundheitsbereich« entwerfen. Die alternativen Stadtteilgesundheitszentren rücken nicht nur die medizinische Versorgungsvielfalt in den Mittelpunkt. Es soll auch darum gehen, die Ökonomisierung des ambulanten Sektors aufzuhalten. So erklärt die Poliklinik Veddel: »Wir wollen eine konkrete Alternative zu den derzeitigen ambulanten Versorgungsstrukturen entwickeln, in der Profitinteressen keinen Platz haben, Qualität statt Quantität gilt und Gesundheit als Allgemeingut verstanden wird.«

Weitere Infos:

Gesundheitskollektiv Berlin

Polikliniksyndikat

 

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