Die Bulgarin Diana Markova musste rund um die Uhr pflegebedürftige Menschen in deren Zuhause betreuen. Jetzt streitet sie mit Unterstützung von ver.di dafür, dass ihre Arbeitszeit wenigstens vollständig bezahlt wird.
Daniel Behruzi
Diana Markova ist eine Frau, die anpackt. »Ich bin nie vor Arbeit davongelaufen«, sagt die 70-jährige Bulgarin. Lange arbeitete sie nach ihrem Tourismusstudium in der Verwaltung eines Hotels am Schwarzen Meer. Dann kam die Privatisierung und sie musste sich eine andere Stelle suchen. Zwei Tage pro Woche war sie danach als Securitymitarbeiterin an einer Schule im Einsatz, die restliche Zeit versorgte sie ihren pflegebedürftigen Ehemann. Als dieser 2013 starb, drückten die Schulden. Um sie bezahlen zu können, nahm sie über das Internet mit einer Vermittlungsagentur Kontakt auf. »Ich wollte einen Job im Westen – irgendeinen«, sagt Diana Markova, die in Wirklichkeit anders heißt. Ihren richtigen Namen möchte sie lieber nicht in der Zeitung und im Internet lesen. Sie befürchtet Schwierigkeiten, falls sie sich nochmal um eine Stelle in Deutschland bewirbt. Das schließt sie auch jetzt nicht aus – trotz aller Erfahrungen, die sie hier gemacht hat. Doch eins möchte sie nie wieder: sich ihre Rechte nehmen lassen.
Ihre erste Arbeitsstelle war in Koblenz, wo sie zwei ältere Menschen versorgte – und zwar rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche. Die bulgarische Vermittlungsagentur hatte ihr zuvor erklärt, sie dürfe den Haushalt, wo sie in einem Dachgeschosszimmer lebte, nicht verlassen. Im schriftlichen Arbeitsvertrag stand allerdings etwas ganz anderes: Dort war von »einem 6-Stunden-Arbeitstag«, freiem Wochenende und der Bedingung die Rede, dass keine Überstunden geleistet werden. Mit der Realität hatte das nichts zu tun. »Ich hatte überhaupt keine Freizeit, konnte nicht mal einen Spaziergang machen oder einen Kaffee trinken gehen«, berichtet Diana Markova. So war es auch später, als sie in Bonn und dann in Berlin in den Privathaushalten pflegebedürftiger Menschen wohnte und arbeitete, insgesamt 44 Monate lang.
Sie kümmerte sich um den Haushalt, bereitete das Essen zu, wusch und bügelte. Doch auch in der Pflege machte sie »das volle Programm: baden, Popo wischen, Windeln wechseln, in den Rollstuhl heben und alles andere«, wie sie erzählt. Zuvor dafür qualifiziert wurde sie nicht. Erst später besuchte sie während eines unbezahlten Urlaubs in Bulgarien einen zweimonatigen Kurs, »um ein offizielles Dokument für die Zertifizierung zu haben« – und das auf eigene Kosten. »Ich hatte ja lange meinen Mann gepflegt und mich vorher um meine Mutter gekümmert, daher ging das schon«, sagt Diana Markova. Sehr belastend seien allerdings die langen Arbeitszeiten gewesen. »Ich hatte nie einen freien Tag, musste immer bei der Frau sein und sie versorgen, ihr Gesellschaft leisten.« Auch emotional wurde sie dabei völlig vereinnahmt. »Zusammen fernsehen, Spiele spielen – ich musste ihr eine immer zur Verfügung stehende Freundin sein, denn die Angehörigen haben sich nur selten blicken lassen.« Selbst nachts hatte sie keine Privatsphäre und Ruhe. Die Tür ihres Zimmers musste immer offen stehen, damit sie die Rufe der alten Dame hören konnte.
Irgendwann war es ihr zu viel, Diana Markova war am Ende ihrer Kräfte. Sie bekam eine Lungenentzündung und ließ sich vom Hausarzt der pflegebedürftigen Frau behandeln. Der schickte dafür eine Rechnung von 160 Euro. Die Vermittlungsagentur hatte sie in Deutschland anders als versprochen nicht krankenversichert. Laut Arbeitnehmerentsendegesetz können ausländische Beschäftigte bis zu 24 Monate lang in Deutschland arbeiten und in ihrem Heimatland sozialversichert bleiben. Wohl deshalb musste Diana Markova nach zwei Jahren zu einer Agentur mit einem anderen Namen wechseln.
Mehrfach fragte die Bulgarin den Sohn der pflegebedürftigen Frau, ob sie ab und zu einen freien Tag haben könne. Nach vielen Diskussionen durfte sie schließlich stundenweise das Haus verlassen, nachmittags mal vier, vormittags höchstens zwei Stunden. »Das reicht einfach nicht, sich zu erholen«, sagt die 70-Jährige rückblickend.
Verzweifelt suchte sie Hilfe. Die in Berlin lebende Tochter einer Freundin in Bulgarien riet ihr, sich an die Gewerkschaft zu wenden. So kam sie zunächst in Kontakt mit der Beratungsstelle für entsandte Beschäftigte und schließlich mit der DGB-Beratungsstelle »Faire Mobilität«, die ihr einen Rechtsanwalt vermittelte und sie seither kontinuierlich unterstützt. Mit Hilfe von
ver.di reichte Diana Markova Klage auf Nachzahlung entgangener Gehälter ein. Netto verdiente sie monatlich bis zu 950 Euro. Gemessen an ihrem Arbeitsvertrag entsprach der Stundenlohn in etwa dem gesetzlichen Mindestlohn. Legt man allerdings die tatsächliche Arbeitszeit zugrunde, kommen mehrere 10.000 Euro vorenthaltener Lohn zusammen.
»Ich weiß, dass ich Pflichten habe – aber ich habe auch Rechte«, sagt Diana Markova entschieden. »Arbeit darf keine Erniedrigung sein. Wir sind keine Menschen dritter Klasse.« Mit Gewerkschaften hatte sie vorher nie etwas zu tun. Jetzt meint sie: »Die Gewerkschaft ist die einzige Institution, die sich für uns Arbeitnehmer einsetzt.« Sie wolle nicht mehr als das, was ihr gesetzlich zustehe, betont die 70-Jährige, die seit einigen Jahren wieder in Bulgarien lebt. Zusammen mit ihrer Tochter und zwei Enkelkindern wohnt sie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Wenn die beklagte Agentur den Lohn nachzahlt, könnten sie sich eine größere Bleibe suchen. Doch das kann noch dauern, denn das Unternehmen reizt alle juristischen Möglichkeiten aus. Nachdem es vom Berliner Landesarbeitsgericht im August 2020 in zweiter Instanz zur Nachzahlung von gut 30.000 Euro verurteilt wurde, will es nun vor das Bundesarbeitsgericht (BAG) ziehen. Diana Markova hat damit einen Präzendenzfall angestoßen, der das hunderttausendfach praktizierte »Live-in-Modell« infrage stellen könnte.
»Es macht mich richtig wütend, dass so viel Aufwand nötig ist, nur um zu erreichen, dass sie das bekommt, was ihr zusteht«, sagt Justyna Oblacewicz, die als Referentin beim DGB-Beratungsnetzwerk »Faire Mobilität« in Berlin arbeitet. Sie hofft, dass eine positive BAG-Entscheidung auch andere Live-in-Kräfte ermutigt, ihre Rechte einzufordern. Ein Großteil der schätzungsweise bis zu 500.000 dieser Kolleginnen kenne ihre Rechte nicht und haben Angst. »Diana wollte die Ungerechtigkeit nicht hinnehmen. Sie hat sich Unterstützung geholt und den Mut aufgebracht, vor Gericht zu ziehen. Das kann auch anderen helfen«, ist Oblacewicz überzeugt.
Auch für Dietmar Erdmeier, der bei ver.di für europäische Gesundheitspolitik zuständig ist, hat die juristische Auseinandersetzung eine weitreichende Bedeutung. »Ob bei Mindestlohn oder Arbeitszeiten – dieses Versorgungsmodell ist nur mit systematischem Gesetzesbruch zu haben«, kritisiert der Gewerkschafter. »Jeder weiß das, dennoch wird es von den politisch Verantwortlichen geduldet oder sogar noch befördert.« Nach Plänen des Bundesgesundheitsministers soll künftig sogar ein Teil der Sachleistungen aus der Pflegeversicherung für die Bezahlung von Live-in-Kräften genutzt werden können. »Statt dieses ausbeuterische Modell zu festigen, muss die Regierung den pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien endlich Alternativen bieten«, fordert Erdmeier. »Denn darunter leiden nicht nur die ausländischen Kolleginnen, sondern auch die pflegebedürftigen Menschen, die keine qualitätsgesicherte Pflege erhalten.«
ver.di fordert im Vorfeld der Bundestagswahl, dass die Absicherung bei Pflegebedürftigkeit grundlegend weiterentwickelt wird – mit einer »Solidarischen Pflegegarantie«, bei der alle Einkommensarten in die Finanzierung der Pflegeversicherung einbezogen und sämtliche pflegebedingte Kosten übernommen werden. Das wäre die finanzielle Grundlage dafür, die stationären und ambulanten Angebote massiv auszubauen. Zudem plädiert die Gewerkschaft für eine klare Abgrenzung zwischen der Unterstützung im Alltag und pflegerischen Tätigkeiten. Eine steuerfinanzierte Unterstützung im Haushalt könne dafür sorgen, dass ältere Menschen länger selbstständig in ihrem Zuhause bleiben könnten. »Und hier könnten auch die osteuropäischen Kolleginnen entsprechend ihrer Qualifikation zu regulären Bedingungen angestellt werden«, erläutert Erdmeier. »Das würde sowohl den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen als auch den Beschäftigten eine Perspektive bieten – die politisch Verantwortlichen sind am Zug.«