Winzige Händchen strecken sich Julia Stange entgegen. Die Fachkinderkrankenschwester steht in der Perinatologischen Intensivstation des Mainzer Uniklinikums am Brutkasten. Mit geübten Handgriffen steckt sie ein Röhrchen auf den Aufsatz der Kanüle, über die das Frühgeborene ernährt wird. »Jetzt versuchen Sie es mal«, sagt sie ermutigend zur Mutter des Kindes. Und lobt bald darauf: »Sehr gut.«
Es sei »absolut entscheidend«, erläutert die Fachkinderkrankenschwester später, die Eltern so früh wie möglich in den Pflegeprozess einzubeziehen und sich Zeit dafür zu nehmen. Zeit, die allzu oft nicht da ist. Denn an der Uniklinik Mainz ist es wie in allen anderen deutschen Krankenhäusern: Es fehlt an Personal, die Beschäftigten sind überlastet und stets unter Zeitdruck. Doch am Universitätsklinikum der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt tut sich was, seit ver.di dort Ende 2019 einen Tarifvertrag Entlastung durchgesetzt hat.
»Die Teams haben damals viel darüber nachgedacht und geredet, was sie brauchen, um gut pflegen zu können«, berichtet Julia Stange. Während der Auseinandersetzung trafen sich die Delegierten der Teams wöchentlich, um zu diskutieren und Aktionen zu planen. »Die Kommunikation untereinander ist seither ganz anders. Und auch das Selbstbewusstsein der Kolleginnen und Kollegen. Sie lassen nicht mehr alles mit sich machen.«
ver.di stellte dabei nicht pauschale Forderungen für alle auf. Die Teams selbst entschieden darüber, ob sie sich an der Tarifbewegung beteiligen und welche Forderungen sie aufstellen wollten. »Wir haben klargemacht, dass wir Organisationsmacht brauchen, wenn wir die Entlastung wirklich durchsetzen wollen«, erklärt der Anästhesie-Pfleger Sebastian Tensing. »Deshalb konnten sich nur Teams beteiligen, deren Mehrheit sich in ver.di organisierte.« Binnen kurzer Zeit schnellte der gewerkschaftliche Organisationsgrad auf über 50 Prozent hoch. Und ver.di konnte sehr glaubhaft vermitteln, dass die Beschäftigten die Uniklinik im Streik lahmlegen können. In letzter Minute stimmte der Vorstand dem Tarifvertrag zu.
»Zusätzliche Freizeit ist unbezahlbar«
Seither gelten Sollbesetzungen für alle beteiligten Bereiche und Stationen. An deren Aushandlung waren die Teams selbst direkt beteiligt. »Das geht auch gar nicht anders«, betont Sebastian Tensing. »Nur die Leute vor Ort wissen, wie die Situation ist und was sie brauchen.« Wird die vereinbarte Personalbesetzung unterschritten, erhalten die Betroffenen unmittelbar nach der unterbesetzten Schicht auf dem Arbeitszeitkonto zusätzliche Freizeit gutgeschrieben. »Dieser Belastungsausgleich wird für die Kolleginnen und Kollegen sofort sichtbar«, erläutert Sebastian Tensing, der sich auch im Personalrat engagiert. Seine Kollegin Julia Stange ergänzt: »Zusätzliche Freizeit ist unbezahlbar. Einfach eine Zeit, in der das Telefon nicht klingelt – das tut allen gut.«
Vor Abschluss des Tarifvertrags wurde die Personalbesetzung auf der Herzchirurgischen Intensivstation des Uniklinikums »Pi mal Daumen« geplant, berichtet der Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivpflege, Veith Stahlheber. Jetzt soll eine Pflegeperson für höchstens zwei Patient*innen zuständig sein, bei besonders aufwändigen Fällen für eine/n. »Das wird zwar oft nicht eingehalten, aber dafür bekommen wir jetzt einen Ausgleich. Bei mir sind schon über drei Tage zusammengekommen.« Die zusätzliche Freizeit sei für die Kolleg*innen eine Form der Wiedergutmachung. Und noch wichtiger: Sie erhöht den Druck auf den Arbeitgeber, mehr Personal einzustellen. Denn die Belastungszulage erhöht sich von Jahr zu Jahr. Bei einer unterbesetzten 7,7-Stunden-Schicht gibt es zum Beispiel im OP aktuell 35 Minuten Freizeitausgleich. 2024, wenn der Tarifvertrag voll wirkt, werden es 92 Minuten sein. Das gibt der Klinikleitung Zeit, neues Personal zu gewinnen. Andernfalls müssen immer mehr freie Tage kompensiert werden. »Wenn die Personalbesetzung so bliebe, wie sie bei Abschluss des Tarifvertrags war, würde sich der Jahresurlaub der Pflegepersonen ab 2024 im Durchschnitt verdoppeln«, rechnet Sebastian Tensing vor. »Das zeigt den Handlungsdruck.«
Das Management reagiert darauf. »Es versucht wirklich viel, neue Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen.« Und das nicht nur mit den üblichen Werbekampagnen, sondern auch mit Verweis auf die Entlastungsvereinbarung. »Die Kultur ändert sich. Es wird mehr auf die individuellen Bedürfnisse der Leute eingegangen, um sie zu halten«, berichtet der Anästhesie-Pfleger. »Zuletzt haben wir sogar Leihbeschäftigte für eine Festanstellung gewonnen.«
Im ersten Jahr der Vereinbarung hat sich die Zahl der Vollzeitkräfte im Pflegedienst um 74 erhöht, während sie in den Vorjahren stagnierte. »Bei insgesamt über 1.300 Pflegestellen klingt das nicht viel, aber es ist ein Anfang, der definitiv auf unseren Tarifvertrag zurückzuführen ist«, bilanziert Sebastian Tensing. Die entscheidende Veränderung ist für ihn allerdings, dass sich die Pflege am Mainzer Uniklinikum viel stärker einbringt als früher. »Das hängt auch daran, dass die Mehrheit jetzt gewerkschaftlich organisiert ist. Es gibt fast 250 Aktive, die sich permanent über eine Chatgruppe austauschen. Das hat auch in der Corona-Pandemie eine wichtige Rolle gespielt.«
Einer derjenigen, die in der Entlastungsbewegung aktiv geworden – und geblieben – sind, ist der Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger Salvatore Famá. »Am Anfang waren die Leute auf meiner Station skeptisch. Doch wir haben gezeigt, was wir als Pflegepersonen erreichen können, wenn wir uns organisieren.« Die Personalsituation sei zwar immer noch »alles andere als perfekt«, zumindest aber gebe es dafür den Freizeitausgleich. Seine Schlussfolgerung ist, dass sich das Gesundheitswesen insgesamt ändern muss – »weg von der Ökonomisierung, hin zur Solidarität, auch unter den Berufsgruppen im Krankenhaus«. Das Finanzierungssystem der Fallpauschalen gehöre abgeschafft, ist der Pfleger überzeugt. »Der Tarifvertrag Entlastung ist gut, wir haben viel erreicht – aber da geht noch was.«