Tarifvertrag Entlastung

Kämpfen für Entlastung

13.09.2021

Bei Vivantes und Charité in Berlin, aber auch am Potsdamer Klinikum Ernst-von-Bergmann haben sich Beschäftigte zu einem Tarifvertrag für Entlastung auf den Weg gemacht.

 
Die Berliner Krankenhausbewegung im Fußballstadion

 

Berlin: Beschäftigte bei Charité und Vivantes verteidigen ihr Streikrecht

Der Konflikt um einen Tarifvertrag Entlastung bei Vivantes und Charité spitzt sich zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe zu. Per Urabstimmung haben die Beschäftigten der öffentlichen Kliniken Berlins ihre Streikbereitschaft demonstriert. An Europas größtem Universitätsklinikum Charité stimmten Anfang September 97,85 Prozent für einen unbefristeten Arbeitskampf, im kommunalen Klinikkonzern Vivantes waren es 98,45 Prozent.

Eine klare Ansage. Falls die Arbeitgeber sie nicht verstehen, soll der Streik am 9. September beginnen (nach Redaktionsschluss). Dann wird nicht nur symbolisch gestreikt. Bereits während eines dreitägigen Warnstreiks im August mussten bei Charité und Vivantes insgesamt über zehn Stationen geschlossen und aufschiebbare Behandlungen und Operationen abgesagt werden. Stillgelegt war auch die Station 1 des geriatrischen Ida-Wolff-Krankenhauses in Berlin-Neukölln, das seit einigen Jahren zum Vivantes-Konzern gehört. »Unser Haus hatte sich bis dahin noch nie an irgendeinem Streik beteiligt«, sagt die Krankenschwester Heike Gross. »Die meisten dachten früher: Es passiert ja eh nichts. Zumindest in unserem Team hat sich das völlig geändert.«

Stationsschließungen im Streik

Die Kolleg*innen haben in den vergangenen Monaten viel geredet, untereinander und mit ver.di-Aktivist*innen. »Irgendwann ist uns klar geworden: Wir können nicht immer nur jammern, wir müssen selbst etwas bewegen«, erklärt Heike Gross. »Die Mitgliedsanträge für ver.di auszufüllen, war am Ende gar keine große Debatte mehr. Denn wer Forderungen durchsetzen will, braucht die Gewerkschaft – das geht nicht allein.« Inzwischen ist das 21-köpfige Team nahezu komplett organisiert – und streikbereit. Einige Tage vor dem Warnstreik kündigte es offiziell an, die Station schließen zu wollen. »Die Stationsleitung und die Ärzte haben uns super unterstützt«, berichtet die 55-Jährige. »Pünktlich zum Streikbeginn waren alle Betten durch Verlegungen und reduzierte Neuaufnahmen leer, die Station zu.«

Die Leitungskräfte waren allerdings nicht überall so kooperativ. »Leider gab es bei der Charité massive Versuche, das Streikrecht zu unterlaufen, indem Betten trotz der langfristigen Ankündigung mit verschiebbaren Fällen belegt wurden«, kritisiert die Gesundheits- und Krankenpflegerin Jeannine Sturm aus dem Virchow-Klinikum. »Offensichtlich sollen die Pflegekräfte in ein moralisches Dilemma gebracht werden, um sie davon abzuhalten, ihr Streikrecht wahrzunehmen. Das macht mich unglaublich wütend.«

Doch die Vivantes-Personalchefin Dorothea Schmidt, die ihr »Handwerk« beim Helios-Konzern gelernt hat, ging noch einen Schritt weiter und versuchte, den Ausstand juristisch zu verhindern. Das Unternehmen erwirkte am ersten Warnstreiktag eine Einstweilige Verfügung gegen den Streik, die das Berliner Arbeitsgericht bei der mündlichen Verhandlung am zweiten Tag allerdings wieder zurücknahm. Die Intensivpflegerin Anja Voigt aus dem Vivantes-Klinikum Neukölln bilanzierte danach: »Das Streikrecht gilt auch für uns Krankenhausbeschäftigte, das lassen wir uns von niemandem nehmen.«

berliner-krankenhausbewegung.de

 
Die Berliner Krankenhausbewegung auf der Straße

 

Potsdam: Nach Corona-Ausbruch fordern Beschäftigte Konsequenzen

Ökonomisierung und Personalnot im Krankenhaus sind potenziell tödlich. Schwarz auf weiß steht das in dem Bericht einer unabhängigen Expertenkommission über einen Corona-Ausbruch im Potsdamer Klinikum Ernst-von-Bergmann im Frühjahr 2020, bei dem fast 50 infizierte Patient*innen starben. Die Liste der Vorwürfe an Geschäftsführung und Aufsichtsrat ist lang. Unter anderem heißt es, die Zimmer seien »chronisch überbelegt«, der Pflegebereich unzureichend ausgestattet und das Handeln der Klinikleitung »durch wirtschaftliche Interessen dominiert« gewesen – alles Missstände, auf die Beschäftigten immer wieder hingewiesen hatten. Jetzt streiten sie dafür, dass wirksame Schlussfolgerungen gezogen werden – in Form eines Entlastungs-Tarifertrags.

Allein im Jahr 2018 dokumentierten die Potsdamer Kolleg*innen ihre Überlastung mit über 2.200 Gefährdungsanzeigen. Doch es gebe Hinweise darauf, so formuliert es der Bericht vorsichtig, dass die Verantwortlichen diese Hinweise nicht ernst nahmen und herunterspielten. Selbst als das Bündnis »Gesunde Zukunft Potsdam« im Januar 2020 ein Bürgerbegehren mit über 17.000 Unterschriften für bessere Arbeitsbedingungen und eine faire Bezahlung im Klinikum überreichte, geschah erstmal nichts. Dann kam der Corona-Ausbruch und zwang die Verantwortlichen zum Handeln.

Das taten sie allerdings nur halbherzig. Zwar wurden aller Tochterunternehmen, wie im Bürgerbegehren verlangt, in den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) zurückgeführt. Das aber nicht per Überleitungstarifvertrag mit ver.di, sondern über eine Regelungsabrede mit dem Betriebsrat. Weil die Berufserfahrung dabei teilweise nicht anerkannt wird, verdient zum Beispiel eine Krankenpflegerin mit 15 Jahren Berufserfahrung rund 300 Euro weniger als im

40 Kilometer entfernten Klinikum Brandenburg. »Und dann wird darüber gejammert, dass man keine Pflegekräfte bekommt – das passt überhaupt nicht zusammen«, kritisiert der ver.di-Sekretär Torsten Schulz.

 

Systematische Organisierung

Überhaupt keine spürbaren Verbesserungen gibt es seither bei der ebenfalls im Bürgerbegehren geforderten Entlastung des Klinikpersonals. ver.di hat das mit einem »Belastungscheck« deutlich gemacht, an dem sich rund 500 Beschäftigte beteiligten und der gravierende Missstände aufzeigt. Die ver.di-Aktiven wollen diese nicht länger hinnehmen und haben sich wie ihre Berliner Kolleg*innen auf den Weg gemacht, einen Tarifvertrag Entlastung zu erreichen.

Derzeit läuft unter dem Motto »Potsdams letzte Gefährdungsanzeige« eine Unterschriftensammlung, an der sich die Mehrheit der Belegschaft beteiligen soll. Weitere Ziele sind, dass sich in allen Bereichen Tarifbotschafter*innen melden und der gewerkschaftliche Organisationsgrad auf mindestens 20 Prozent, in der Pflege auf wenigstens 30 Prozent steigt. »Wenn wir das schaffen, haben wir die Kraft, die Klinikleitung zu Tarifverhandlungen über Entlastung aufzufordern«, erläutert Schulz. »Jahrelang wurden alle unsere Appelle ignoriert. Deshalb organisieren sich die Beschäftigten jetzt systematisch und machen Druck. Anders geht es offenbar nicht.«

evb-entlastung.de

 

 
Die Gesundheits- und Krankenpflegerin Jessica Hoffmann

 

Jetzt oder nie

Die Gesundheits- und Krankenpflegerin Jessica Hoffmann hat schon länger damit geliebäugelt, ver.di beizutreten. »Aber es fehlte der letzte Schubs.« Den hat sie mit der Tarifbewegung für Entlastung bekommen. Sie ist das tausendste neue Mitglied, das sich im Zuge der Kampagne gewerkschaftlich organisiert hat. Das war Mitte Juli. Zu Redaktionsschluss Ende August – nur sechs Wochen später – sind es schon 1.650 Beschäftigte von Charité, Vivantes und Tochtergesellschaften, die sich in den vergangenen Monaten ver.di angeschlossen haben. Sie sind wie Jessica Hoffmann überzeugt: »Wenn wir uns zusammenschließen und Dampf machen, haben wir die Chance, tatsächlich etwas zu bewegen.« Die Corona-Pandemie habe die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Krankenhäuser gelenkt, meint die Krankenpflegerin aus dem Vivantes Humboldt-Klinikum in Berlin-Reinickendorf. »Das kann uns helfen – jetzt oder nie.«

wir-sind-verdi.de

 

Weiterlesen

1/12