Schicht- oder Wechselschichtarbeit belastet besonders. Zusätzlich mussten die Kolleginnen und Kollegen noch Überplanung und überraschende Überstunden hinnehmen. Nicht einmal Teilzeitbeschäftigte blieben verschont.
Der sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts entschied am 15. Oktober: Diese Verpflichtung durch den TVöD greift nicht. Denn die Tarifregel ist unklar. Sie war und ist darum rechtlich unwirksam.
Das BAG änderte seine Rechtsprechung zu § 7 Abs. 8c TVöD (Urteil 15.10.2021 – 6 AZR 253/19). Die Karten sind neu gemischt.
Sophie hat am Mittwoch der ersten Woche in ihren Feierabend hineingearbeitet. Diese Arbeitsstunde ging über den geplanten Rahmen (obere Planzeile) hinaus. In diesem Moment war es keine Überstunde. Der Arbeitgeber konnte sich auch (noch) nicht auf die vereinbarte Verpflichtung zur Leistung von Überstunden berufen.
Am Montag der Folgewoche war nicht so viel zu tun. Sophie ließ sich früher nach Hause schicken. So sind nie Überstunden entstanden. So steht ihr keine Überstundenvergütung zu. Und auch kein Überstundenzuschlag.
Der Tarifvertrag regelt diesen Fall nicht. Ihm fehlen dafür die Worte. Ist es eine Ergänzung des Plans um überraschende regelmäßige Arbeitszeit? Ist es eine kurzfristige Planänderung? Hat der Betriebsrat (der Personalrat, die MAV) in einer Sondersitzung der Verlängerung der Schichtdauer zugestimmt? Hat er dabei den Arbeitgeber festlegen lassen, wie er dieses Entgegenkommen ausgleichen will – etwa mit der Überstundenvergütung?
Die Richter*innen am Bundesarbeitsgericht haben die Tarifregeln wieder und wieder gelesen. Die Regeln des § 7 Abs. 8c TVöD waren nicht eindeutig und klar. Das wurde zum Stolperstein, als eine Teilzeit-Kollegin aus einer Intensivabteilung Zeitzuschläge für Überstunden forderte. Tarifnormen wirken nur dann, wenn zumindest Fachleute sie verstehen können.
Damit fällt für viele Teilzeitbeschäftigte ihre Anspruchsgrundlage auf Überstundenvergütung weg. Besonders ärgerlich: Das greift rückwirkend!
Es bleiben für alle die Grundregeln für Mehrarbeit und Überstunden. Sind denn diese klar und eindeutig? Unser Verdacht wächst, Arbeitgeber, Vorgesetzte und Arbeitsrichter*innen haben da noch nicht genau genug hingeschaut.
Die erste Regel gilt ausschließlich für Beschäftigte in Teilzeit:
Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 1.1 Satz 1) leisten.
[So steht es im § 7 Abs. 6 TVöD / TV-L]
Die zweite Regel ist deutlich anders. Sie umfasst alle Beschäftigte, ob mit Vollzeit- oder Teilzeitvertrag:
Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.
[So steht es im § 7 Abs. 7 TVöD / TV-L]
Die Überstundenregel greift nur in wenigen Ausnahmefällen auch für Teilzeitbeschäftigte. Die müssten schon nahe genug an der Vollzeit arbeiten und sehr viele Arbeitsstunden zusätzlich leisten. Beide Regeln werfen viele Fragen auf.
Die folgenden Tarifverträge enthalten genau die Regelung, die aufgrund der Gerichtsentscheidung nun »gestrichen« ist. Sie betrachten Mehrarbeit und Überstunden für alle auf dieselbe Weise:
TVöD, TV-L, TV Ärzte, TV BG Kliniken, DRK-RTV, TV-EKBO, TV-EvB, TV KUV, HTV Uniklinikum Leipzig, TV-VBGK, TV SSV (§ 14), TV-TgDRV, TV UKM, TV UKN.
Ebenso AVR Wue und die Anlagen 30 bis 33 der AVR Caritas. Die verbleibenden Regeln gelten so bereits von Beginn an in den Geltungsbereichen der TV AWO, M-TV M/W/I Sana, TV DN.
Branka hat es schlimmer getroffen als Sophie. Sie hat sich breitschlagen lassen und ist am planfreien Donnerstag eingesprungen. Diese Arbeitsstunden gingen über den geplanten Rahmen (obere Planzeile) hinaus. Zunächst waren sie noch keine Überstunden. Zunächst war Branka so auch nicht zur Leistung verpflichtet.
Der Arbeitgeber hat ihr nicht im Gegenzug in der Folgewoche eine zusätzliche Freischicht zum Ausgleich gewährt. Am zweiten Sonntag um Mitternacht ereignet sich eine erstaunliche Verwandlung. Es entstehen die 7,7 Stunden als Überstunden. Die muss der Arbeitgeber vergüten und noch zusätzlich den Überstundenzuschlag bezahlen. Mit einem tarifkonformen § 10-Arbeitszeitkonto darfst du das Geld in Freizeit tauschen. Ausnahme: § 8 (2) räumt im TV-L Arbeitgebern das Recht auf Freizeitausgleich ein
Folgen wir den Tarif-Kommentator*innen, dann scheint auch der Fall von Ilka klar. Solange sie in einer Woche nicht die magische Schwelle ihrer vertraglichen Zeitschuld überschreitet, entsteht keine Mehrarbeit.
Ilka springt zwar am ersten, planfreien Donnerstag in die Nachtschicht ein. Die Vorgesetzte ist auch dankbar. Doch der Tarifvertrag regelt auch diesen Fall nicht. Ist das bloß »regelmäßige Arbeitszeit«, eine kurzfristige Abänderung des Plans? Hat der Chef neu die Zustimmung der Interessenvertretung eingeholt? Hat der Arbeitgeber dabei offengelegt, wofür er diese neun Sonderstunden hält? Hat er sich festgelegt und zum Ausgleich die Überstundenvergütung versprochen?
In der zweiten Woche klappte es am Dienstagabend nicht mit der Ablösung. Ilka hat eine neunte Stunde gearbeitet. Auch das war keine Mehrarbeit!
Die BAG-Richter haben das wohl auch bemerkt: Das geht ganz anders als bei den Überstunden. Die Tarifregel stellt nicht auf ein bloßes »Mehr« zu der für Dienstag im Plan festgesetzten Arbeitszeit ab. Bei der Mehrarbeit geht es ausschließlich um die Wochenbilanz. Erst im Saldo am folgenden Wochenende sind gesamt 9,8 Stunden Mehrarbeit entstanden.
Die Tariftexte definieren »Mehrarbeit« nicht für alle klar und verständlich. Auf welche Zeiträume wird da geschaut? Doch die Tarif-Kommentare sind sich über den Fall von Tyla erstaunlich einig. Wenn Tyla in einer Woche mehr als die von ihr vereinbarten 19,25 Stunden arbeitet, entsteht Mehrarbeit. Erst dann! In der ersten Woche erkennen wir am Saldo: Es sind insgesamt 30,8 Stunden geplant – 11,55 Stunden »Mehrarbeit«. Mehrarbeit muss sie nur in den Grenzen des Tarifvertrags leisten (im TVöD/TV-L stehen diese im § 6 Abs. 5): mit einer Extra-Klausel in ihrem Arbeitsvertrag, oder mit ihrer Zustimmung, stets mit einer begründeten dienstlichen Notwendigkeit, mitbestimmt durch die Interessenvertretung, festgelegt nach billigem Ermessen und rechtzeitig angekündigt. Sonst darf sie bereits den Plan zurückweisen: »Nein danke, in der ersten Woche bitte nicht mehr als 19,25 Stunden!«
Achtung: Für diese Mehrarbeit steht keine besondere Vergütung zu! Der Tarifvertrag vereinbart eine wochendurchschnittliche Zeitschuld. Für diesen Durchschnitt legen die Betriebsparteien die Länge des Ausgleichszeitraums fest. Im TVöD / TV-L regelt § 6 Abs. 2 für diese Länge einen Rahmen (»bis zu«). Der Bezugszeitraum kann mehr als zwei Wochen überspannen, vielleicht vier, acht oder – bei unbedachten Interessenvertretungen – 52 Wochen oder mehr.
Bleiben Arbeitsstunden am Ende dieses Betrachtungszeitraums unausgeglichen, gehen sie also über die geschuldeten hinaus? Erst diese muss der Arbeitgeber extra vergüten.
Ob du einige dieser Stunden wegen Urlaub oder Krankheit nicht geleistet hast, ist für deinen Anspruch unschädlich. Laut TVöD / TV-L § 8 Abs. 2 stehen dir Stundenvergütung und anteiligen Zulagen zu.