Auf ihrer Station fühlt sich Silvia K. wohl. Schon seit ihrer Ausbildung arbeitet die Gesundheits- und Krankenpflegerin in einem katholischen Krankenhaus in K. – und das sehr gerne. »In meinem Team wissen alle schon lange, dass ich mit einer Frau zusammenlebe. Das war nie ein Thema«, sagt die 33-Jährige. Doch gegenüber der Pflegedienstleitung war sie immer darauf bedacht, sich nicht zu verraten. Selbst in ihrer Freizeit, wenn sie mit ihrer Partnerin am Rhein Hand in Hand spazieren ging, machte sie sich Sorgen, sie könnten gesehen werden. Denn auch im Jahr 2022 noch kann Homosexualität in katholischen Einrichtungen ein Kündigungsgrund sein.
Silvia K. und 124 andere nicht-heterosexuelle Beschäftigte wollen das nicht länger hinnehmen. Unter dem Motto #OutInChurch haben sie sich in einer spektakulären Aktion öffentlich geoutet. Gemeinsam fordern sie in einem Manifest unter anderem »eine Korrektur menschenfeindlicher lehramtlicher Aussagen« der Kirche in Bezug auf Homosexualität. »Und wir fordern eine Änderung des diskriminierenden kirchlichen Arbeitsrechts einschließlich aller herabwürdigenden und ausgrenzenden Formulierungen in der Grundordnung des kirchlichen Dienstes.«
Charlotte Hermann, die als Mitarbeitervertreterin in einer katholischen Einrichtung in Bayern aktiv ist, sieht das öffentliche Outing als »ganz wichtigen Impuls für die überfällige Weiterentwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts«. Der Effekt sei schon jetzt zu spüren. »Die Aktion wirkt. Das zeigen die vielen positiven Reaktionen nicht nur der Kirchenbasis, sondern auch die Ankündigung von Bischöfen und Generalvikaren, keine arbeitsrechtlichen Schritte gegen Beschäftigte wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihres Beziehungslebens oder des Familienstandes einzuleiten – also die geltenden Regelungen nicht mehr anzuwenden.« Es sei höchste Zeit, die Verquickung von dienstlichen mit privaten Angelegenheiten in der kirchlichen Grundordnung zu beenden. »Das Damoklesschwert der Loyalitätsobliegenheiten, das permanent über den Betroffenen hängt und sie belastet, gehört weg«, betont die Mitarbeitervertreterin. »Die 125 Kolleg*innen haben mit ihrer bewundernswerten Initiative viel in Bewegung gesetzt. Sie erweisen uns allen und auch der Kirche selbst einen großen Dienst.«
Auch für Mario Gembus, der bei ver.di für kirchliche Betriebe zuständig ist, ist das Outing »eine mutige und wirklich tolle Aktion«. Traurig sei allenfalls, dass der Schutz der großen Gruppe überhaupt nötig ist. »Diskriminierung hat nirgendwo einen Platz – auch nicht in der Kirche.« Juristisch beruft sich die Kirchenspitze auf ihr grundgesetzlich verbrieftes »Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht« und auf eine Ausnahmeregelung für Religionsgemeinschaften im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Nicht nur gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, auch Wiederverheiratung oder Kirchenaustritt können demnach als Kündigungsgründe herhalten. »Das ist nicht nur moralisch nicht haltbar, sondern auch rechtlich mittlerweile fragwürdig«, meint Gembus. »Kirchliche Betriebe sind kein rechtsfreier Raum, auch sie dürfen Grund- und Menschenrechte nicht mit Füßen treten.« Der Gesetzgeber sei gefordert, dies klarzustellen und die Ausnahmeregelung in Paragraf 9 des AGG zu streichen.
»Der Sonderweg, den die Kirchen für sich reklamieren, ist längst nicht mehr zeitgemäß – ob bei den individuellen oder kollektiven Arbeitsrechten«, sagt der Gewerkschafter. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie lehnen es in weiten Teilen immer noch ab, mit ver.di auf Augenhöhe über Tarifverträge zu verhandeln. Stattdessen werden Bezahlung und Arbeitsbedingungen für die Mehrheit der insgesamt rund 1,8 Millionen Beschäftigten hinter verschlossenen Türen in kircheninternen Arbeitsrechtlichen Kommissionen festgelegt. Auch in der betrieblichen Interessenvertretung sind Kirchenbeschäftigte gegenüber ihren Kolleg*-innen in konfessionsfreien Einrichtungen schlechtergestellt. »Die Privilegien der Kirchen bei der Benachteiligung ihrer Beschäftigten gehören abgeschafft«, fordert Gembus. »SPD, Grüne und FDP haben im Koalitionsvertrag vereinbart, diese auf den Prüfstand zu stellen – gut so!«
Für die Krankenpflegerin Silvia K. steht ebenfalls fest: »Alle weltlichen Gesetze müssen auch für die Kirchen und ihre Beschäftigten gelten.« Mit ihrer Beteiligung an der #OutInChurch-Initiative will sie auch anderen Mut machen, sich gegen Diskriminierung zu wehren. Von der Klinikleitung gab es bislang keine Reaktion auf das öffentliche Coming-out. »Aber viele Kolleginnen und Kollegen haben es mitbekommen und gesagt, dass sie es super und mutig finden. Das ist ein schönes Gefühl.«
Die 33-Jährige will sich nicht länger verstecken. Wenn ihr Arbeitgeber tatsächlich arbeitsrechtliche Schritte gegen sie einleiten sollte, ist sie sich der Unterstützung ihrer Kolleg*innen sicher. »Mein Team steht hinter mir. Wenn sie mich kündigen würden, würden sicher viele sagen: Bei einem Arbeitgeber, der so etwas tut, möchte ich nicht länger arbeiten.«
von Daniel Behruzi
Dokumentation
In der ARD-Dokumentation »Wie Gott uns schuf – Coming out in der katholischen Kirche« berichten queere Kirchenbeschäftigte über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung. Alle 100 Interviews können in der ARD-Mediathek angeschaut werden: t1p.de/coming-out-kk
Petition
Bereits über 94.000 Menschen haben im Internet die Petition »Kein Sonderweg beim Arbeitsrecht für Kirchen« unterzeichnet: t1p.de/petition-kirche
Stellungnahmen
Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag prüfen, inwiefern das kirchliche dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen wollen daran beteiligt werden. Ein Forderungspapier des ver.di-Kirchenfachrats und ein Offener Brief der Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaften und Gesamtausschüsse der Mitarbeitervertretungen im diakonischen Bereich (buko ga+agmav) sind hier zu finden: t1p.de/stellungnahmen-kirche