Die Kolleginnen in der heilpädagogischen Tagesstätte des Würzburger Blindeninstituts sorgen rührend und professionell für Kinder mit Sehbehinderung und anderen Einschränkungen | Kathrin Hedtke
Ein Blick auf die Küchenuhr, 11.15 Uhr, Lis Böhm stellt rasch fünf bunte Plastikbecher mit Wasser und Multivitaminsaft bereit – und eilt zusammen mit Karin Dauer rüber zum Förderzentrum des Blindeninstituts in Würzburg. Zwei Jungen und ein Mädchen sitzen schon in der Sonne neben ihren Schulranzen. »Weißt du, wen ich heute gehauen habe?«, ruft Charlotte*, 9, gutgelaunt. Ali, 9, hockt regungslos daneben. Karin Dauer streicht ihm liebevoll über den Kopf, bindet dem Mädchen die Haare zum Zopf und nimmt beide Kinder an die Hand. Schnurstracks über eine Wiese voller Gänseblümchen sind es nur ein paar Schritte bis zur heilpädagogischen Tagesstätte. Lis Böhm folgt mit Malik, 15, ganz langsam, Treppenstufe für Treppenstufe hoch in den dritten Stock. Der Schüler ächzt, ist völlig außer Puste. »Die Bewegung tut ihm gut«, erklärt die Pflegekraft, »er muss seine Motorik trainieren.« In der Gruppe werden vier Jungen und ein Mädchen nach der Schule betreut. Alle sind blind oder sehbehindert und haben weitere, teils schwere Beeinträchtigungen.
In der Wohnung schiebt Lis Böhm das Mittagessen nochmal ein paar Minuten in den Backofen, verteilt Salat auf Teller. Karin Dauer rückt Malik die Brille zurecht, wischt ihm mit einem Tuch die Spucke vom Mund, kuschelt kurz mit Charlotte und begleitet Ali auf die Toilette, zwischendrin hastet sie zum Telefon: Ein Runder Tisch wird verschoben. Malik verschüttet seine Saftschorle. »Ui«, sagt die Erzieherin fröhlich, »das war etwas zu schwungvoll« – und holt Papiertücher. Sie schneidet Kartoffeln und Fisch klein, unterstützt den 15-Jährigen beim Essen. »Bist du fertig?« Dabei legt sie beide Hände zu einem Kreuz übereinander. »Oder möchtest du noch etwas trinken?« Sie formt ihre Hände zu einem Becher. Die Gebärden sollen die Verständigung erleichtern, erklärt die Erzieherin. Sie hat dazu eine Fortbildung belegt. Nach dem Essen stapft Malik ins Spielzimmer. Dort schreit er laut auf Arabisch, hämmert gegen den Schrank. Der Junge ist als Flüchtling aus Syrien hergekommen. »Er muss sich austoben. Das braucht er und das darf er auch.« Nur alleine mit einem anderen Kind dürfen sie ihn nicht unbeaufsichtigt im Raum lassen.
Viel Wert wird in der Tagesstätte darauf gelegt, die Selbstständigkeit der Kinder zu fördern: Tisch abräumen, Hände waschen, auf Toilette gehen, Pulli anziehen, solche Sachen. »Diese lebenspraktischen Dinge üben wir mit ihnen«, sagt die Pflegekraft. Um 13 Uhr eilt sie los, Florian, 20, aus der Berufsschule abholen. David, 19, wird von der Physiotherapeutin gebracht. Karin Dauer schiebt derweil Charlottes rosa Shirt über den Bauch und verabreicht ihr Wasser über eine Magensonde. Die Neunjährige hat eine Nierentransplantation hinter sich und muss einmal pro Stunde sondiert werden. Lis Böhm hat zur Erinnerung einen Zettel an den Küchenschrank gehängt. »Damit uns in dem ganzen Tohuwabohu nichts durchrutscht.
Zwei Erwachsene für fünf Kids: Das klinge auf den ersten Blick nach einer traumhaften Personalbesetzung, meint Karin Dauer. »Aber wir sind echt am Limit.« Früher seien sie zu dritt oder viert gewesen. »Da konnten wir sehr individuell arbeiten, auch mal mit einem Kind alleine durch die Stadt spazieren oder ein Eis essen. Das geht nur noch in den Ferien.« Zumal noch viel hinzukommt: Förderpläne schreiben, Berichte tippen, mit Eltern sprechen et cetera. Alles sei eng getaktet, sagt die 59-Jährige. »Ich finde nicht in Ordnung, dass sich solche Einrichtungen selber tragen oder sogar Gewinn abwerfen sollen.« Sie stützt die Arme in die Hüfte und schüttelt den Kopf: »Das ist doch lächerlich. Hier müssen ganz andere Marker gelten.«
Die Bezahlung in der Behindertenhilfe sei ein großes Problem, betont Karin Dauer. »Es findet sich kaum noch jemand, der die Arbeit machen möchte.« Dabei zahlt das Blindeninstitut – anders als manch andere Einrichtung – nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Lis Böhm faltet ihren Gehaltszettel auseinander: Knapp 1.500 Euro für 19,5 Stunden. Die 64-Jährige ist gelernte Textilmusterdesignerin. Als ihre drei Kinder größer waren, bewarb sie sich für den Halbtagsjob in der Tagesstätte. »Mir macht’s immer noch Spaß«, sagt sie. »Zum Glück habe ich einen Mann daheim.« Als Zuverdienst sei das Gehalt okay. »Sonst würde es nicht gehen!«
Um sich für eine Aufwertung ihrer Arbeit stark zu machen, sind Kolleginnen und Kollegen aus dem Blindeninstitut in der Tarifrunde für den Sozial- und Erziehungsdienst mit Bussen zur Kundgebung in die Innenstadt gefahren. Viele Menschen mit Behinderung waren mit von der Partie. »Längst nicht alle, die wollten, konnten mitkommen«, berichtet Karin Dauer, »weil es nicht genug Betreuerinnen und Betreuer gab.«
In der Tagesstätte nimmt sich Karin Dauer nach dem Mittagessen bewusst Zeit für jedes Kind, wenigstens ein paar Minuten: Sie setzt sich neben David aufs Sofa, schnallt ihm knallrote Orthesen über die Hände und massiert seine Finger. Danach baut sie mit Ali bunte Legosteine zusammen, streichelt seinen Rücken. »Buch anschauen, Buch anschauen«, ruft Charlotte. Lis Böhm räumt die Spülmaschine ein, putzt die Toilette, wäscht Urin aus Klamotten und schneidet Erdbeeren für den Snack. Zwischendurch steckt im 45-Minuten-Takt die Physiotherapeutin Daniela Turtschany fröhlich ihren Kopf herein und holt die Kinder nacheinander zur Einzeltherapie ab. »Hallo Ali«, ruft die 39-Jährige. »Wir gehen heute aufs Laufband. Hast du Lust?« Auch sie sagt, dass sie sich mehr Zeit für jedes Kind wünschen würde. Doch ihre Stellen würden über Einzelmaßnahmen von den Krankenkassen refinanziert. »Dadurch haben wir viel Druck.«
Ein letzter Blick auf die Uhr in der Küche: Alle Kinder sind pünktlich fertig, als um 15.45 Uhr die Busse anrollen. Alle waren auf Toilette, niemand hat im letzten Moment in die Hose gemacht. Karin Dauer und Lis Böhm atmen auf. »Oft sind wir ganz schön am Schnaufen«, sagt die Erzieherin. Trotzdem mache sie ihre Arbeit von Herzen gerne. »Wir bekommen unheimlich viel zurück.« Nach Feierabend setzen sich die beiden Frauen in ihrer Freizeit immer nochmal aufs rote Sofa und trinken zusammen Kaffee. »Das ist unser Ritual«, sagt Lis Böhm. »In aller Ruhe.«
* Namen der Kinder geändert
Beschäftigte aus der Behindertenhilfe haben sich an den Aktionen und Warnstreiks des Sozial- und Erziehungsdienstes beteiligt. Sie haben sich Sichtbarkeit verschafft und zum Tarifergebnis beigetragen. Wie alle Kolleg*innen profitieren sie von zwei zusätzlichen freien Erholungstagen, neuen Zulagen in Höhe von 130 bzw. 180 Euro monatlich sowie verbesserten Stufenlaufzeiten. Wichtig sind u.a. folgende Regelungen: