Debatte: Arbeitszeiterfassung

Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitszeiten elektronisch zu erfassen. Hilft das den Beschäftigten in der Wissenschaft?
21.06.2023

 
Mathis Heinrich, Referent an der Universität Marburg

Pro

Mathis Heinrich, Referent an der Universität Marburg

Überstunden und fehlende Ruhepausen machen krank. Gerade Wissenschaftler*innen sollten diese Forschungsergebnisse ernst nehmen. Aber der Alltag sieht anders aus. Unter dem Deckmantel der Liebe für das eigene Fach wird trotz Teilzeitverträgen oft bis tief in die Nacht gearbeitet – nicht nur für die eigene Qualifikation. Ein Freizeitausgleich ist auch in der vorlesungsfreien Zeit nicht möglich. Die Erfassung der Arbeitszeit würde diese Missstände endlich flächendeckend aufdecken.

Erst wenn Überstunden aufgezeichnet werden, können diese auch ausgeglichen werden. Das Festhalten von Anfang und Ende der Arbeitszeit hilft zudem, die gesetzlichen Ruhezeiten einzuhalten. Wer bis 23 Uhr arbeitet, darf am nächsten Tag erst ab 10 Uhr ins Büro. Das müssen neben den vorgesetzten Professor*innen vielleicht auch die Beschäftigten erst für sich lernen.

Dabei ist Arbeitszeiterfassung keinesfalls zu verwechseln mit Stechuhr und starrem Dienstplan. Sie kann auch in der Wissenschaft gelingen, wenn sie digital stattfindet und mit einer Flexibilisierung der üblichen Arbeitszeiten einhergeht. Davon würde dann auch das wissenschaftsunterstützende Personal profitieren.

Daher: Elektronische Arbeitszeiterfassung hilft gerade in der Wissenschaft, vielerorts macht sie die Probleme erst richtig sichtbar.

 

 

 
Robert Feustel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig

Contra

Robert Feustel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig

Selbstausbeutung ist im akademischen Geschäft selbstverständlich, vor allem im wissenschaftlichen Mittelbau. Schlimmer als Selbstausbeutung ist Selbstausbeutung mit schlechtem Gehalt (das ist an den Unis weniger problematisch) und Selbstausbeutung mit Stechuhr. Wer eh schon seine oder ihre Haut zu Markte trägt und (meist vergeblich) hofft, dass irgendwann mit der Professur Zahltag sein wird, will das wenigstens dann tun, wenn es ihm oder ihr passt.

Verschärfend kommt hinzu, dass sich der Alltag in der Maschine Wissenschaft kaum in feste Zeitrhythmen pressen lässt. Konferenzen sind oft am Wochenende, die beste Zeit zum Arbeiten ist nicht selten die Zugfahrt dorthin. Der Chef oder die Chefin will kurzfristig eine Zuarbeit und so weiter. Die Geräte zur Arbeitszeiterfassung würden vom »Ein- und Ausloggen« glühen. Zudem sind die Grenzen unklar: Ist die Arbeit an der Dissertation oder Habilitation Arbeitszeit, obwohl davon nichts in der Tätigkeitsbeschreibung steht und die Befristung des Vertrags dennoch mit einer Qualifizierung begründet wird? Wer es an der Uni zu etwas bringen will, macht das in der Regel nicht im formalen Rahmen dessen, was im Vertrag steht.

Kurzum: Die elektronische Zeiterfassung nützt im Wissenschaftsbetrieb wenig, die Ursachen der Probleme liegen woanders.

 

Weiterlesen

1/22

Die gesamte Zeitung als PDF zum Download.

Newsletter

Immer auf dem aktuellen Stand: Der Newsletter des Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft