Seit Wochen bewegen Indien Proteste des medizinischen Personals. Auslöser war die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Ärztin in Ausbildung. Die 31-Jährige wurde am 9. August tot und mit schweren Verletzungen in einem Seminarraum des RG Kar Medical College and Hospital in Kolkata (Kalkutta) gefunden. Dort hatte sie sich nach einer 36-Stunden-Schicht ausruhen wollen. Nur zehn Tage zuvor war im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand eine 33-jährige Krankenschwester auf dem Heimweg von der Arbeit ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet worden.
Der Fall der jungen Ärztin bereitete besonderes Entsetzen, da die Tat direkt am Arbeitsplatz stattfand – das öffentliche Krankenhaus also offenbar nicht in der Lage war, seine Beschäftigte zu schützen. Dies löste eine landesweite Protestwelle aus, teilweise mit zehntausenden Demonstrierenden. Ärztegewerkschaften riefen zum Streik auf: Am 17. August legten sie das Gesundheitssystem in Indien weitgehend lahm. Für 24 Stunden wurden nur Notfallbehandlungen durchgeführt. Etwa eine Million Ärzt*innen sollen sich an dem Streik beteiligt haben. An einigen Krankenhäusern blieben die Beschäftigten bis zu elf Tage im Ausstand.
Bereits 2018 ergab eine Befragung der größten Ärztevereinigung Indiens, der Indian Medical Association (IMA), dass drei von vier Ärzt*innen Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz gemacht hatten – von Beleidigungen und Beschimpfungen bis hin zu körperlichen Attacken. Ein Hintergrund von Angriffen durch Patient*innen oder deren Angehörige liegt im Frust über lange Wartezeiten oder als unzureichend empfundene Behandlungsmöglichkeiten.
Sexuelle Gewalt wurde in der Befragung der IMA nicht gesondert ausgewiesen. Frauen sind jedoch in besonderem Maße betroffen – laut IMA sind 60 Prozent der Ärzt*innen in Indien weiblich. Weibliche Gesundheitsbeschäftigte beklagen, dass sie sich am Arbeitsplatz nicht sicher fühlen und ihnen unter anderem keine sicheren Ruheräume oder eigene Sanitäranlagen zur Verfügung stehen. Zudem berichten sie über sexuelle Belästigung sowohl durch Patienten als auch durch Mitarbeiter. Wie Kolleginnen der ermordeten Ärztin gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters berichteten, ließ sich der Seminarraum, in dem sie sich ausruhen wollte, nicht abschließen. Ein theoretisch vorhandener Ruheraum war aufgrund einer kaputten Klimaanlage nicht nutzbar.
Solche Zustände sind in Indien weder neu noch ungewöhnlich: Der Bundesstaat Westbengalen, in dem Kolkata liegt, hatte bereits vor fünf Jahren nach einem Angriff von Angehörigen eines Patienten auf medizinisches Personal Maßnahmen für mehr Sicherheit in den Krankenhäusern versprochen. Unter anderem sollte es mehr und insbesondere auch weibliche Sicherheitskräfte geben, um Ärztinnen im Dienst zur Seite zu stehen. Verbessert hat sich seither kaum etwas – das will das medizinische Personal nicht länger hinnehmen. Als erste Reaktion auf die Massenproteste hat Indiens Oberster Gerichtshof nun eine Task Force zur Arbeitssicherheit von Ärztinnen angeordnet.
Birthe Haak