Den Beschäftigten an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) reißt der Geduldsfaden. 100 Tage hatten sie der Klinikleitung und der Landesregierung Zeit gegeben, einen Tarifvertrag Entlastung auf den Weg zu bringen. Doch es geschah: nichts! Zum Abschluss des Ultimatums am 16. August vor rund 800 Kolleg*innen auf der Tribüne des Hannoveraner Arminia- Stadions zeigten Niedersachsens Wissenschaftsminister Falko Mohrs (SPD) und andere Verantwortliche zwar viel Verständnis. Einen Tarifvertrag mit individuell einklagbaren Regeln für Entlastung lehnen sie jedoch weiterhin ab.
Deshalb erhöhen die Kolleg*innen jetzt den Druck. Für Mitte September (nach Redaktionsschluss) ruft ver.di die MHH-Belegschaft zu einem mehrtägigen Warnstreik auf. Eine erste Arbeitsniederlegung im August musste zuvor abgesagt werden, weil der Arbeitgeber eine einstweilige Verfügung dagegen erwirkte. Die ver.di-Landesbezirksleiterin Andrea Wemheuer warnte davor, erneut zu juristischen Mitteln zu greifen. »Statt die Beschäftigten noch mehr gegen sich aufzubringen, sollte sich die Landesregierung mit ihnen an einen Tisch setzen und konstruktiv über einen Tarifvertrag zur Entlastung des Personals verhandeln«, sagte die Gewerkschafterin. »Die Beschäftigten der MHH sind mit ihrer Geduld am Ende.«
Der Grund ist offenkundig: Die Bedingungen sind längst nicht mehr tragbar. Das zeigt sich auch an der Bildungsakademie, wo die dringend benötigten Fachkräfte für die MHH ausgebildet werden. Seit 2017 habe sich die Zahl der jährlichen Unterrichtsstunden von 5.000 auf fast 16.000 vervielfacht, ohne zusätzliches Personal, berichtete der Pflegepädagoge Thorsten Wurlitz. Darunter leide die Ausbildung. »Für individuelle Förderung fehlt uns schlicht die Zeit. Diejenigen, die mit etwas mehr Unterstützung gute Pflegekräfte werden könnten, bleiben auf der Strecke.«
Einige Lehrkräfte haben wegen des Drucks gekündigt. Alle anderen haben den Schluss gezogen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Insgesamt sind bislang fast 800 MHH-Beschäftigte ver.di neu beigetreten. »Dass sich nun alle gemeinsam gegen die Zustände wehren, ist wunderbar«, freut sich Detlef Bruse aus dem Krankentransport. »So gut wie jetzt waren wir noch nie aufgestellt. Wir werden den Tarifvertrag Entlastung durchsetzen.«
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Erwartungen: Verbesserung der Ausbildungsqualität (zum Beispiel mehr Zeit für strukturierte Anleitung); Auszubildende, Praxisanleiter*innen u.a. dürfen nicht auf die Personalbesetzung angerechnet werden
Unikliniken Baden-Württemberg: mehr Geld, Zeit und Entlastung
Über 2.000 Beschäftigte an den Unikliniken in Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm haben sich Anfang Juli an mehrtägigen Warnstreiks beteiligt. Das brachte in der 13. Runde der Tarifverhandlungen über mehr Geld, Zeit, Entlastung und Ausbildungsqualität den Durchbruch. Das Tarifergebnis beschert den Beschäftigten nicht nur Lohnerhöhungen von mindestens acht Prozent plus Inflationszahlung von 1.050 Euro, sondern unter anderem auch bis zu vier zusätzliche freie Tage im Jahr, gestaffelt nach Betriebszugehörigkeit. Pflegekräfte erhalten zudem einen Belastungsausgleich bei Arbeit in unterbesetzten Schichten oder anderweitig belastenden Situationen. Beides zusammengenommen bringt einer Pflegekraft mit 15 Jahren Betriebszugehörigkeit insgesamt sieben zusätzliche freie Tage oder entsprechend mehr Geld. Zudem hat ver.di mehr Praxisanleitung für Auszubildende vereinbart. Die Gewerkschaftsmitglieder haben den Kom- promiss Ende Juli mit über 82 Prozent angenommen.
Uniklinik Frankfurt: Entlastung wird eingeklagt
Auf den Intensivstationen der Frankfurter Uniklinik wird der 2022 erkämpfte Tarifvertrag Entlastung nicht richtig eingehalten. »Der Arbeitgeber rechnet sich die Personalbesetzung schön«, kritisiert der Krankenpfleger und ver.di-Vertrauensleu- tesprecher Richard Ulrich. Laut Tarifvertrag soll in Früh- und Spätdienst auf 1,8 bzw. 1,9 Patient*innen jeweils mindestens eine Pflegekraft kommen. »Für uns ist klar, dass diese Ratios zu jeder Zeit erfüllt sein müssen, andernfalls ist die Schicht unterbesetzt und es wird ein Freizeitausgleich fällig.« Die Klinikleitung hingegen rechnet Überlappungszeiten, während denen Pflegekräfte aus verschiedenen Schichten zugleich vor Ort sind, auf die Personalbesetzung an. Rund 70 betroffene Beschäftigte haben deshalb eine Geltendmachung eingereicht. Die ver.di-Mitglieder unter ihnen werden bei Klagen vom gewerkschaftlichen Rechtsschutz unterstützt. Richard Ulrichs Schlussfolgerung: »Es braucht die Gewerkschaft nicht nur, um einen Tarifvertrag zu erkämpfen, sondern auch, um ihn im Alltag durchzusetzen.«