Lebendig, kontrovers und spannend – so diskutierten die rund 120 Teilnehmer*innen der tarifpolitischen Konferenz des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft am Montag und Dienstag (17./18. Oktober) in Göttingen. Kernfrage war, ob und unter welchen Bedingungen die Gewerkschaft Sonderforderungen für einzelne Bereiche oder Berufsgruppen im Rahmen von Tarifverhandlungen aufstellen sollte. Thema war auch, wie Beschäftigte noch stärker in tarifpolitische Debatten eingebunden und an Prozessen beteiligt werden können. Trotz unterschiedlicher Meinungen waren die aus dem ganzen Bundesgebiet angereisten Teilnehmer*innen beim Grundlegenden einig: Wir halten an einer solidarischen Tarifpolitik fest, die für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgt. Und: Diese durchzusetzen, erfordert gewerkschaftliche Mächtigkeit, also den Einsatz möglichst vieler Kolleginnen und Kollegen.
»Wir stehen in der Tarifpolitik vor enormen Herausforderungen«, stellte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler zur Eröffnung der Konferenz fest. Das Gesundheits- und Sozialwesen sei durch politische Entscheidungen dem wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt worden – mit dramatischen Folgen für Tarifverträge und Arbeitsbedingungen. Während sich die Bezahlung früher nahezu in der gesamten Branche nach den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes richtete, sind die Bedingungen heute extrem unterschiedlich. Etliche Betriebe zum Beispiel in der Altenpflege sind nicht mehr an Tarifverträge gebunden. Ähnlich ist die Situation in der Weiterbildung, weshalb ver.di in beiden Bereichen auf staatliche Vorgaben zur Einhaltung von Tarifstandards pocht. Dennoch habe der Flächentarifvertrag weiterhin einen hohen Wert. »Er ist das Instrument, das die Gewerkschaft stark macht, weil es den Wettbewerb unter den Beschäftigten ausschließt«, erklärte Bühler. Diese Errungenschaft gelte es, mit aller Kraft zu verteidigen.
Bei den Teilnehmer*innen der Göttinger Konferenz stieß diese Haltung auf viel Zustimmung. Unterschiedliche Akzente gab es in der Frage, welche Rolle Sonderforderungen in Tarifverhandlungen spielten können. Einige Teilnehmer*innen warnten vor der Gefahr einer Entsolidarisierung, wenn einzelne Beschäftigtengruppen besondere Verbesserungen erzielten. Andere betonten, dass spezielle Forderungen identitätsstiftend und aktivierend seien und es oftmals um die Beseitigung von Ungerechtigkeiten gehe – zum Beispiel im TVöD bei der unterschiedlichen Bewertung von Pausen bei Wechselschicht in Krankenhäusern im Vergleich zu anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes.
Klar ist allerdings, dass Sonderforderungen in der anstehenden Tarifrunde bei Bund und Kommunen keine Rolle spielen werden – aus gutem Grund: die enormen Preissteigerungen erfordern eine deutliche Lohnerhöhung für alle. Die ver.di-Bundestarifkommission hat deshalb beschlossen, für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro monatlich mehr zu fordern. Auszubildende sollen 200 Euro mehr bekommen. »Alle anderen, sehr berechtigten Themen sind nicht weg«, betonte Bühler. »Aber in dieser Tarifrunde heißt es: mehr Lohn, mehr Lohn, mehr Lohn.« Um die ambitionierte Forderung durchzusetzen, brauche es alle Kraft. »Das wird eine extrem harte Tarifrunde«, sagte die Gewerkschafterin. »Unser Fachbereich wird dazu beitragen, dass es auch eine erfolgreiche Tarifrunde wird.«
Ob in dieser oder jeder anderen Tarifrunde – der Erfolg steht und fällt mit dem Engagement der Beschäftigten. Darin waren sich sämtliche Teilnehmer*innen der Konferenz einig. Kontrovers diskutiert wurde darüber, wie sie am besten an Entscheidungsprozessen beteiligt werden können. Während einige Kolleg*innen mehr unmittelbaren Einfluss von Mitgliedern forderten, betonten andere die Rolle der demokratisch gewählten Gremien, die letztlich die Verantwortung dafür tragen, Entscheidungen zu treffen. Die Diskussionen dazu und zu anderen relevanten tarifpolitischen Themen werden auf alle Fälle fortgesetzt. »Es ist gut, dass wir auch unterschiedliche Meinungen aushalten können«, betonte der Altenpfleger und Betriebsrat Johannes Hermann, der als Moderator durch die Konferenz geführt hatte. »Die Debatte ist sehr wichtig – sie ist nicht zu Ende.«
veröffentlicht/aktualisiert am 20. Oktober 2022
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