Asklepios

»Ich hatte Sorge, dass Fehler passieren«

Seit 27 Jahren arbeitet Ruth als Krankenschwester in der psychiatrischen Klinik in Göttingen. Oft war das Personal knapp. Doch in dieser Schicht war Ruth die Situation zu brenzlig. Zu groß war die Angst, einen Fehler zu machen. Die Pflegekraft stellte eine Gefährdungsanzeige. Statt nach Lösungen zu suchen, schickte Asklepios zwei Abmahnungen. Ruth wehrte sich vor Gericht – mit Erfolg.
08.02.2018
Ruth Rohrig hatte eine Gefährdungsanzeige geschrieben und wurde von ihrem Arbeitgeber abgemahnt. Zu Unrecht, wie ein Gericht feststellte.

Herzlichen Glückwunsch! Das Arbeitsgericht in Göttingen hat dir gerade Recht auf ganzer Linie gegeben: Der private Krankenhauskonzern Asklepios muss die Abmahnungen zurücknehmen, die er dir als Reaktion auf deine Gefährdungsanzeige geschickt hat. Wie fühlst du dich?

Sehr erleichtert. Nach dem ganzen Druck, der vom Arbeitgeber aufgebaut wurde, hatte ich schon einige Befürchtungen. So ganz spurlos ist das alles nicht an mir vorbei gegangen. Ich bin sehr froh über das Urteil. Auf diesem Weg erspare ich anderen Kolleginnen und Kollegen vielleicht eine ähnliche Odyssee. Mir ist es ein Anliegen, dass sie eine Überlastungsanzeige schreiben können, ohne sich ängstigen zu müssen. Das ist auch zum Selbstschutz enorm wichtig.

 
Jubel in Göttingen: Asklepios musste die Abmahnung zurücknehmen.

Wie kam es dazu, dass du eine Gefährdungsanzeige gestellt hast?

Im Sommer letzten Jahres kurz nach meinem Urlaub gab es viele Engpässe auf unserer Station, sowohl bei Pflegekräften als auch bei Ärzten und Therapeuten. Dadurch litt die Kommunikation sehr. Dabei ist gerade bei Suchtpatienten in der Psychiatrie der direkte Kontakt enorm wichtig. Normalerweise sind wir zu dritt oder viert für bis zu 22 Patienten auf unsere Station zuständig. In dieser Schicht waren jedoch zwei Pflegekräfte kurzfristig krank geworden, so dass ich mit dem Stationsleiter alleine Dienst hatte. Kurz nach 8 Uhr kam eine externe Schülerin hinzu, die ich kaum kannte. Um 10 Uhr kam noch ein Kollege in den Zwischendienst. Der Stationsleiter war anfangs mit Telefonaten und anderen Aufgaben beschäftigt, später zu Besprechungen außerhalb der Station unterwegs. Auch standen Neuaufnahmen an. Ich stand unter Zeitdruck, musste mehrere Dinge gleichzeitig und mit ständigen Unterbrechungen erledigen. Hinzu kam, dass die Nachbarstation aufgrund einer Besprechung des Pflegepersonals nicht besetzt war – und die Patienten uns anrufen sollten, wenn etwas ist.

Wie hast du dich dabei gefühlt?

Mir war das alles zu viel. Und ich habe mich überrannt gefühlt von der unvorhersehbaren Arbeitssituation. Ich habe mir Sorgen gemacht, wichtige Dinge zu übersehen. Wie es einem Patienten gerade geht, zum Beispiel. Oder einen Fehler bei der Medikamentenausgabe zu machen. Oder mir unbekannten Patienten nicht gerecht werden zu können, wenn diese anriefen. All die Unwägbarkeiten. Und der Zeitdruck. Das war so ein Gehetze, nur noch eine Notabfertigung. So kann man mit Patienten doch nicht umgehen.

Wie kamst du auf die Idee mit der Gefährdungssanzeige? Hast du so etwas schon einmal gemacht?

Nein. Das war das allererste Mal. Ich arbeite seit 27 Jahren in der psychiatrischen Klinik in Göttingen. Natürlich gab es schon viele Situationen, in denen wir viel zu dünn besetzt waren. Aber die Gesamtsituation war so vorher noch nicht da. Ich hatte Sorge, dass Fehler passieren.

 
Auszüge aus Gefährdungsanzeigen von Klinikbeschäftigten

Du hast es also als deine Pflicht angesehen zu reagieren?

Auf jeden Fall. Als ich nach der Schicht nach Hause kam, habe ich beschlossen, eine Überlastungsanzeige zu stellen. Ich wusste, dass so etwas nicht gerne gesehen wird. Solche Situationen sollen halt einfach bewältigt werden. Deshalb versucht jeder, wie ein Hamster im Laufrad, mit der Belastung zurechtzukommen. Aber ich sehe darin die Gefahr, dem Patienten nicht mehr gerecht zu werden. Ich dachte: Wenn es keinen anderen Weg gibt, muss ich es eben Schriftlich machen. Ich wusste, dass Kolleginnen und Kollegen danach zum Gespräch gebeten werden. Gut, dachte ich, dann reden wir detailliert darüber.

Wie ging es weiter?

Ich habe die Überlastungsanzeige am nächsten Tag meinem Stationsleiter persönlich gegeben. Er fiel aus allen Wolken. Er hatte Sorge, dass er deshalb schlecht da stehen könnte.

Und wie reagierte die Konzernleitung?

Erst einmal gar nicht. Bis ich an einem Tag gleich zwei Abmahnungen im Briefkasten hatte. Die eine bezog sich darauf, dass ich meinen Vorgesetzten angeblich nicht unmittelbar informiert hätte. Die zweite besagte, es gebe keine „objektiven Gründe“, eine Belastungsanzeige zu verfassen.

Wie war das für dich?

Ich war total schockiert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte auch etwas Sorge, was das für meine Arbeit bedeutet. Mir war vorher nicht klar, dass der Konzern die Sache so richtig hoch hängt. Aber für mich war auch klar, dass ich mich zusammen mit dem Betriebsrat und ver.di gegen die Abmahnungen zur Wehr setze. Keine Frage.

Was hat dich so entschlossen gemacht?

Mir war schon etwas unwohl zumute. Aber ich wusste auch, dass es rechtliche Grundlagen gibt. Und dass für eine Überlastungsanzeige keine Maßregelung erfolgen darf. Im Gegenteil. Es gehört zu den Nebenpflichten im Arbeitsvertrag, auf mögliche Gefährdungen hinzuweisen.

 

Gefährdungen anzeigen

Julia Niekamp, ver.di-Gewerkschaftssekretärin in Göttingen, erklärt, warum Gefährdungsanzeigen notwendig sind:

„Gefährdungsanzeigen sind enorm wichtig. Allein schon wegen der Haftung. Die Kolleginnen und Kollegen sichern sich so ab, sollte tatsächlich etwas passieren. Zudem können sie Druck aufbauen, damit sich endlich etwas ändert.

Wir erleben häufiger, dass die Arbeitgeber auf Gefährdungsanzeigen mit Einschüchterungsversuchen reagieren. Wenn wir es mi­tbekommen. Manchmal wirken die Einschüchterungen auch – und die Betroffenen reden nicht mehr darüber.

Vor allem bei den privaten Klinikbetreibern Asklepios und Helios, aber auch in anderen Häusern kommt es vor, dass Beschäftigte zum persönlichen Gespräch gebeten werden, damit sie nicht noch einmal auf so eine Idee kommen. Einige Kolleginnen und Kollegen werden aufgefordert, ganz offiziell zu unterschreiben, dass sie die Gefährdungsanzeige zurückziehen. Leider wissen die  KollegInnen oft nicht, dass sie das Recht gehabt hätten, ein Betriebsratsmitglied zu einem solchen Gespräch mitzunehmen – das hilft sehr oft.

Doch weitaus verbreiteter ist die Strategie der Arbeitgeber, einfach gar nicht zu reagieren – und die Anzeige ins Leere laufen zu lassen. Deshalb raten wir, eine Kopie der Gefährdungsanzeige zugleich als Beschwerde beim Betriebsrat einzureichen. Das kann zusätzlich Druck aufbauen: Der Betriebsrat ist selbst berechtigt, den Arbeitgeber aufzufordern, für Abhilfe zu sorgen – und kann dafür bis zur Einigungsstelle gehen. Alleine diese Drohung wirkt oft. Zum einen kostet so etwas viel Geld, zum anderen fürchten viele Arbeitgeber, dass vor einer Einigungsstelle oder einem Arbeitsgericht die Realität in der Pflege, die Personalbesetzung usw. auf den Tisch kommt. Das wollen sie nicht. Da verhandelt man dann plötzlich doch lieber mit dem Betriebsrat über Lösungen.“

 

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