TRöD 2020

Streiks im ganzen Land

Mit bundesweit 300 Aktionen machen die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes deutlich, dass sie ein ordentliches Tarifangebot erwarten. Ganz vorne dabei: das Gesundheitswesen.
20.10.2020
Streik im Rahmen der Tarifrunde bei Bund und Kommunen am 20.10.2020 in Essen

300 Streikaktionen in drei Tagen – das ist die Antwort der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auf die Provokationen der Arbeitgeber im laufenden Tarifkonflikt. Überall gehen die Kolleginnen und Kollegen auf die Straße, um dem Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) zu zeigen, was sie von deren vermeintlich »attraktivem Angebot« halten: gar nichts! Denn es würde für die in der Corona-Pandemie als »systemrelevant« gepriesenen Beschäftigten der öffentlichen Daseinsvorsorge drei Jahre Reallohnverlust bedeuten. Auch den Kolleg*innen im Gesundheitswesen, für die ver.di besondere Verbesserungen fordert, zeigen Bund und VKA die kalte Schulter. Deshalb sind diese bei den Streiks und Protesten ganz vorne mit dabei.

Besonders groß ist der Druck in den Krankenhäusern, wo die Betreiber den Beschäftigten in der zweiten Pandemie-Welle nach eigener Aussage »erneut eine große Flexibilität und Einsatzbereitschaft abverlangen«. Doch honoriert werden soll das nicht. Die angebotene Pflegezulage von 50 Euro ist ein Bruchteil der geforderten 300 Euro und weniger als halb so hoch wie in den Bundesländern bereits vereinbart. Zugleich soll die Psychiatrie-Zulage gestrichen werden. Im Rettungsdienst wollen die Arbeitgeber längere Schichten statt kürzere Arbeitszeiten.

 
Sylvia Bühler, ver.di-Bundesvorstand, bei einer Kundgebung im Rahmen der Tarifrunde bei Bund und Kommunen am 20.10.2020 in Essen

»All das ist die absolut falsche Botschaft«, betonte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler am Dienstag (20. Oktober 2020) bei einer Kundgebung in Essen mit rund 1.000 Teilnehmer*innen. »Die Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen müssen attraktiver werden, um dringend benötigte Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten. Das haben die Arbeitgeber offenbar immer noch nicht verstanden.« Umso wichtiger sei es, sich für die eigenen Interessen stark zu machen. »Immer mehr Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und der Sozialen Arbeit organisieren sich und verschaffen sich Respekt, gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen im gesamten öffentlichen Dienst – richtig so!«

Kliniken schließen ganze Stationen

Respekt verschafft haben sich insbesondere Beschäftigte von Krankenhäusern, die im Zuge des Streiks OP-Säle, Betten und ganze Stationen schließen konnten. So wurden zum Beispiel am Klinikum Stuttgart am Montag und Dienstag erstmals sieben Stationen komplett bestreikt. Im nahegelegenen Ludwigsburg-Bietigheim waren neun Stationen ganz und sieben weitere teilweise geschlossen, im Rems-Murr-Klinikum vier Stationen vollständig dicht. An der Mannheimer Universitätsmedizin konnte am Montag in neun OP-Sälen nicht operiert werden.

 
Leere Flure, wie hier in Köln-Merheim, gab es am Montag und Dienstag in vielen Krankenhäusern.

Mancherorts versuchten Arbeitgeber, juristisch gegen Stationsschließungen vorzugehen. So an den Kliniken der Stadt Köln, wo Betten und Stationen bisher noch nie streikbedingt stillgelegt wurden. Die Geschäftsführung unterzeichnete eine Notdienstvereinbarung, die Stationsschließungen ermöglicht. Als tatsächlich mehrere Teams eine Komplettschließung anmeldeten, wollte sie von der Vereinbarung aber plötzlich nichts mehr wissen und verhinderte den Streik per einstweiliger Verfügung des Arbeitsgerichts. Doch die Kolleg*innen ließen nicht locker und meldeten erneut vier Stationen zur Schließung an. Zugleich sammelten sie binnen 24 Stunden 375 Unterschriften von Beschäftigten, die ihr Streikrecht einforderten, und übergaben diese am 16. Oktober an Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos). Das wirkte: Die Geschäftsleitung beendete das rechtliche Verfahren und schloss einen Kompromiss mit ver.di, wonach die Station 5B in Köln-Merheim komplett geschlossen und eine weitere nur mit Notdienstbesetzung offen gehalten wurde. »Die Kollegen haben das durchgestanden und mit der Petition an die Politik ihr Streikrecht durchgesetzt – das ist ein Riesen-Erfolg«, bilanziert der ver.di-Betriebsrat und Vertrauensmann Valentin Pilz.

 

Eltern zeigen Verständnis

Wenn die Arbeitgeber darauf spekuliert haben, dass Streiks und öffentlichkeitswirksame Proteste während der Pandemie nicht möglich sind, dann haben sie sich verrechnet. Beschäftigte überall in der Republik zeigen ihnen das mit Entschlossenheit und viel Kreativität. So zum Beispiel in Hamburg mit einem »Tarif-Marathon«: Am Dienstag fand eine Fahrraddemo mit dem ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke statt. Am Mittwoch schippern Protest-Kanus auf der Alster und am Donnerstag wird in der Hansestadt zu Fuß demonstriert, während in Potsdam die Tarifverhandlungen wieder aufgenommen werden.

 
Kundgebung auf dem Hamburger Gänsemarkt im Rahmen der Tarifrunde bei Bund und Kommunen am 20.10.2020

Allein am Dienstag beteiligten sich in der Hansestadt rund 4.000 Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen, darunter viele aus Kindertagesstätten. Beim Kita-Träger Elbkinder war nach dessen eigenen Angaben etwa ein Drittel der Belegschaft im Streik. Eine von ihnen: die Erzieherin Andrea Müffelmann. »Bei uns im Team haben ungefähr drei von vier Kolleginnen mitgemacht«, berichtet die ver.di-Vertrauensfrau. »Wir haben den Eltern einen lieben Brief geschrieben und sie um Unterstützung gebeten. Und die meisten haben auch Verständnis.« Letztlich gehe es auch um eine gute frühkindliche Bildung, denn diese sei nur mit genug Personal möglich. Voraussetzung hierfür: eine angemessene Bezahlung. »Uns fehlen überall die Fachkräfte, zum Beispiel in der Heilerziehungspflege. Damit wir sie gewinnen, müssen sich die Bedingungen verbessern«, so Müffelmann.

Notallsanitäter fordern Arbeitszeitverkürzung

 
Runter mit der Arbeitszeit! Protestaktion von Rettungsdienstlern in Lippe im Rahmen der Tarifrunde bei Bund und Kommunen im Oktober 2020

Das betonten auch die Beschäftigten im Rettungsdienst, die vor allem kürzere Arbeitszeiten fordern. »48 Stunden in der Woche sind einfach zu viel, und ein Teil davon wird noch nicht einmal bezahlt«, kritisiert der Notfallsanitäter Marcel Kügler, der sich im Rettungsdienst Kreis Lippe als ver.di-Tarifbotschafter engagiert. Er und seine Kolleg*innen haben mit einer Foto-Aktion vor ihrer Rettungswachte auf die überlangen Arbeitszeiten aufmerksam gemacht. »Rettet die Retter«, steht auf ihren Transparenten. Zu den 48 Wochenstunden zählen zwar auch Bereitschaftszeiten, aber freie Zeit ist das nicht. »Ich muss jederzeit innerhalb von 60 Sekunden im Rettungswagen sein. Da ist man immer innerlich angespannt«, berichtet Kügler. »Und wie oft man bei diesen Arbeitszeiten seine Familie und Freunde sieht, kann sich jeder ausrechnen.«

 
Runter mit der Arbeitszeit! Protestaktion von Rettungsdienstlern im Rahmen der Tarifrunde bei Bund und Kommunen im Oktober 2020

Die langen Arbeitszeiten kritisierten Rettungskräfte nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern überall im Land. »Arbeitszeit runter, damit ich meine rote Jacke nicht endgültig an den Nagel hänge«, heißt es bei einer Foto-Aktion in Schleswig-Holstein. »Wir haben unserer Jacken symbolisch an den Nagel gehängt, um klar zu machen: Unter diesen Bedingungen kann man nicht auf Dauer arbeiten«, erklärt der Leiter der Rettungswache in Elmshorn, Norbert Wunder. »Schon jetzt fehlen uns Fachkräfte. Wenn wir in Zukunft noch in der Lage sein wollen, die Hilfsfristen einzuhalten, bis zu denen im Notfall Hilfe vor Ort sein muss, dann müssen sich die Bedingungen verbessern.« Wunder, Mitglied der ver.di-Bundestarifkommission und Sprecher der Bundesfachkommission Rettungsdienst, hält das Angebot der kommunalen Arbeitgeber für »eine Frechheit«. Statt die Arbeitszeiten zu reduzieren, soll die täglichen Höchstarbeitszeit auf 24 Stunden ausgeweitet werden. »Jemand, der 24 Stunden wach ist, soll Rettungswagen fahren, in Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen und im Notfall auch invasive Maßnahmen am Patienten durchführen? Das geht gar nicht.«

 
Aktive Mittagspause vor dem städtischen Altenheim Servatius am 21. Oktober 2020 in Augsburg

Auch in anderen Teilen des Gesundheitswesens ist die Wut groß. »Gerade wir in den Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser haben die erste Corona-Welle noch in den Knochen«, sagt Volker Schmidt, Betriebsrat im RoMed Klinikum Rosenheim. Zahlreiche Umstrukturierungen, Personalverschiebungen, Zwölf-Stunden-Dienste, Besuchsverbote und die Angst, ohne Schutzmaterialien arbeiten zu müssen, hätten die Beschäftigten in den vergangenen Monaten extrem belastet. Und nun stehe die nächste Bugwelle an Corona-Infektionen und Erkrankungen bevor, warnte der Vorsitzender des Fachbereiches Gesundheit und Soziales bei ver.di in Bayern. »Der Dank für die Pflegekräfte mündet in eine ernüchternde Pflegezulage von 50 Euro. Aber auch in der Behindertenhilfe, der Sozialarbeit und im Erziehungsdienst sieht Wertschätzung anders aus.«

Das empört auch die Beschäftigten des Seniorenzentrum Servatius in Augsburg. »In der Krise wurden wir beklatscht, besungen und als die Helden von Corona gefeiert«, so der Personalratsvorsitzende der städtischen Altenheime, Dieter Lützow, bei einer »aktiven Mittagspause« am Mittwoch. »Doch kaum geht es darum, diesen Helden auch eine angemessene Lohnerhöhung zu geben, haben die Arbeitgeber vergessen, wer die Kohlen aus dem Feuer geholt hat und legen ein solches Angebot vor.« Diese haben bei den Verhandlungen am Donnerstag und Freitag in Potsdam Gelegenheit nachzubessern. Andernfalls dürften weitere Streiks und Aktionen unausweichlich sein.

 

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