»Faire Mobilität«

Systematischer Gesetzesbruch

De facto finden Arbeitnehmerrechte auf osteuropäische Betreuungskräfte in deutschen Privathaushalten keine Anwendung. Das DGB-Projekt »Faire Mobilität« unterstützt die Kolleginnen. Interview mit Justyna Oblacewicz, Referentin beim DGB-Projekt »Faire Mobilität« in Berlin.
17.02.2020
Immer häufiger der einzige Ausweg für pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige: Eine Haushaltshilfe, die sich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zuhause kümmert.

Mit Unterstützung von ver.di und vom DGB-Projekt »Faire Mobilität« klagt derzeit eine bulgarische Betreuungskraft in Berlin auf Lohnnachzahlung, die in einem sogenannten Live-in-Modell in einem Privathaushalt in Deutschland tätig war: Sie kümmerte sich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche um eine pflegebedürftige Frau in ihrer Wohnung. In ihrem Arbeitsvertrag war hingegen eine 30-Stunden-Woche bei einem Bruttogehalt von 1.562 Euro festgelegt. Ist das ein typischer Fall, der euch bei der Beratung osteuropäischer Betreuungskräfte in Deutschland begegnet?

Ja, das ist ein typischer Fall. Viele der osteuropäischen Pflegerinnen haben Arbeits- oder Dienstleistungsverträge, die in der Regel eine 40-Stunden-Woche vorsehen. Würden sie tatsächlich nur diese Zeit arbeiten, läge die Bezahlung meist in etwa auf dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns. Tatsächlich aber sollen sie die pflegebedürftigen Menschen rund um die Uhr betreuen. So bieten es die Vermittlungsagenturen den Familien an, wenn sie sich eine osteuropäische Kraft ins Haus holen. Diese muss ständig zur Verfügung stehen. Wenn die pflegebedürfte Person in der Nacht auf Toilette muss, hat die Betreuungskraft da zu sein. Laut höchstrichterlicher Entscheidung ist Bereitschaftszeit aber als Arbeitszeit zu werten und muss wenigstens mit dem Mindestlohn vergütet werden.

Solchen Praktiken steht aber nicht nur das Mindestlohngesetz entgegen, oder?

 
Justyna Oblacewicz

In der Tat werden hier etliche Gesetze systematisch gebrochen. Angefangen beim Arbeitszeitgesetz, das eine tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden, in der Regel von acht Stunden zulässt und eine elfstündige Ruhepause zwischen den Arbeitseinsätzen vorschreibt. Auch der gesetzlich verbriefte bezahlte Urlaub und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werden den Betreuungs- und Pflegekräften fast immer vorenthalten. De facto finden sämtliche in Deutschland geltenden Arbeitnehmerrechte auf sie keine Anwendung.

Das Berliner Arbeitsgericht hat der in ver.di organisierten Kollegin in erster Instanz Recht gegeben. Welche Bedeutung hätte es, wenn das Urteil auch in der Revision vor dem Landesarbeitsgericht Bestand hätte?

Das würde klarstellen, dass wenn jemand 24 Stunden am Tag bereitstehen soll, diese Arbeitszeit auch vergütet werden muss – mindestens mit dem gesetzlichen Mindestlohn. Damit würde auch klar, dass das Modell der 24-Stunden-Pflege durch eine einzige Person eine Mogelpackung und auf legalem Wege nicht möglich ist. Hier steht also das Geschäftsmodell als solches auf dem Prüfstand.

Nur sehr wenige solche Fälle landen überhaupt vor Gericht. Was hält die Frauen davon ab, ihre Rechte einzufordern?

Das hat vielfältige Ursachen. Zum einen sind die Frauen nur vorübergehend, bis zu drei Monate im Land. Zum anderen sprechen sie oft nicht gut Deutsch und kennen ihre Rechte nicht. Sie wissen nicht, dass das deutsche Arbeitsrecht für alle gilt, die in Deutschland arbeiten – unabhängig davon, welcher Nationalität sie sind und wo sie ihren Arbeitsvertrag geschlossen haben. Hinzu kommt die Angst vor Vertragsstrafen: Sie fürchten, dass ihnen Lohn abgezogen oder gar nicht erst ausgezahlt wird, wenn sie es nicht mehr aushalten. Diese Frauen sind isoliert und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Die deutsche Gerichtsbarkeit ist mit sehr vielen Hürden verbunden – vor allem für Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. All das hindert sie daran, in Deutschland Klage einzureichen. Viele glauben auch, dass sie das gar nicht könnten, weil sie einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen im Ausland haben. Das stimmt aber nicht: Wenn sie hier arbeiten, können sie sich auch vor deutschen Gerichten gegen unzumutbare Bedingungen zur Wehr setzen.

 

Projekt »Faire Mobilität«

Das Projekt »Faire Mobilität« hilft seit 2011, gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen für Beschäftigte aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt durchzusetzen. Es wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund getragen und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie von den DGB-Gewerkschaften finanziert. Im Rahmen des Projekts werden Studien erstellt und politische Handlungsempfehlungen entwickelt. In neun Beratungsstellen in Berlin, Frankfurt am Main, Dortmund, Kiel, München, Mannheim, Nürnberg, Oldenburg und Stuttgart werden mobile Beschäftigte in ihren Landessprachen arbeitsrechtlich und sozialrechtlich informiert und unterstützt. Zudem werden Bildungsmaterialien entwickelt und der transnationale Dialog der Gewerkschaften unterstützt.

 

 

Wie kommt ihr vom Projekt »Faire Mobilität« überhaupt an die Beschäftigten ran, die in Privathaushalten arbeiten? Und was könnt ihr für sie tun?

Das Projekt besteht seit 2011 und die häusliche Betreuung war für uns von Anfang an Thema. Insbesondere unter polnischen Betreuungskräften werden unsere Informationen und Kontakte durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben, vor allem über Social Media. Wir schalten auch Anzeigen in den Medien der Herkunftsländer. Dennoch erreichen wir viele nicht. Deshalb haben wir in diesem Jahr ein Schwerpunktprojekt gestartet, bei dem vier polnischsprachige Kolleginnen von unterschiedlichen Beratungsstandorten in Deutschland über Facebook und andere Kanäle über Arbeitsrechte informieren und auf unser Beratungsangebot aufmerksam machen. Was das Projekt »Faire Mobilität« ausmacht, ist, dass wir nicht nur allgemeine Informationen streuen, sondern auch eine individualrechtliche Beratung anbieten. Denn wir haben festgestellt, dass es nicht ausreicht, diesen Beschäftigten ihre Rechte aufzuzeigen. Man muss ihnen konkret helfen, sie juristisch einzufordern und durchzusetzen.

Welche Dimension hat die Beschäftigung ausländischer Betreuungskräfte in deutschen Privathaushalten?

Valide Zahlen gibt es nicht. Denn zum Teil sind diese Beschäftigungsverhältnisse völlig undokumentiert, ohne schriftliche Arbeitsverträge etc. Schätzungen gehen von bis zu einer halbe Million Frauen aus, vor allem aus Osteuropa, die in deutschen Privathaushalten als Pflege- und Betreuungskräfte arbeiten.

 

Live-in: Ist das überhaupt Pflege?

Justyna Oblacewicz: In den Verträgen, die uns in der Beratung gezeigt werden, werden die Frauen als Haushaltshilfen als auch Pflegekräfte bezeichnet. Vergeblich suchen wir in den Verträgen nach einer klaren Aufgabenbeschreibung. Das hat zur Folge, dass von den Frauen häufig auch Pflegetätigkeiten verlangt werden. Pflege in Deutschland ist aber streng geregelt und darf im Grunde nur von qualifiziertem Personal durchgeführt werden. In der Regel haben die osteuropäischen Betreuungskräfte aber keine Pflegeausbildung, eine fachliche Anleitung findet ebenso wenig statt. Für die Frauen ist es sehr problematisch, weil damit die Haftungsfrage offen bleibt.

 

 

Warum ist dieses Phänomen so weit verbreitet?

Die politisch Verantwortlichen setzen darauf, dass ein Großteil der Pflege mehr oder weniger unentgeltlich von Angehörigen übernommen wird, fast immer von Frauen. Doch die Gesellschaft wandelt sich. Die Erwerbstätigkeit von Frauen nimmt zu, viele können oder wollen nicht zu Hause bleiben, um ihre Angehörigen zu pflegen. Ein Pflegeheim kommt nicht in Frage. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist es, auch das Pflegegeld – das eigentlich nur eine Aufwandsentschädigung für die ehrenamtliche Pflege von Angehörigen ist – für die Bezahlung externer ausländischer Betreuungskräftezu verwenden. Das und die Rente des pflegebedürftigen Menschen reichen aber in der Regel nicht, um einen angemessenen Lohn zu zahlen. De facto werden die höchst fragwürdigen Arrangements in der live-in-Pflege, wie sie die Wissenschaft nennt, durch das Pflegegeld also noch befördert. Die grundlegende Ursache ist, dass die deutsche Pflegeversicherung noch nicht auf den gesellschaftlichen und demografischen Wandel eingestellt ist. Weil keine andere Lösung erkennbar ist, wird die Ausbeutung der Care-Migrantinnen toleriert.

Was müssen die Regierenden tun, um die Situation ausländischer Beschäftigter in Deutschland zu verbessern?

Wir müssen feststellen: Dieser Bereich ist vollkommen unreguliert, es gibt nicht einmal Qualitätsstandards. Das bedeutet, dass den Agenturen, die auf die Anwerbung und Entsendung der Pflegekräfte spezialisiert sind, keinerlei kontrollierbare Vorgaben gemacht werden. Das müsste sich ändern. Allerdings gibt es ein Problem: Die private Wohnung ist zugleich der Arbeitsort, der kontrolliert werden müsste. Das kollidiert aber mit der im Grundgesetz garantierten Unverletzlichkeit der Wohnung.

Wichtig ist aus meiner Sicht die Klarstellung, dass die Schutzrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland auch für diese Frauen gelten. Derzeit sind sie bis zu drei Monate lang in einer Privatwohnung isoliert – in einer physisch und psychisch sehr anstrengenden Situation. Das hält man gar nicht lange durch. Diese wichtige und verantwortungsvolle Tätigkeit muss reguliert werden, so dass die Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen und die Familien die Sicherheit haben, dass die Arbeit gut und qualifiziert gemacht wird. Das heißt auch, dass die Agenturen dazu verpflichtet werden müssen, die Frauen gut auf ihre Arbeit und die Situation vorzubereiten. Das ist häufig nicht der Fall und führt zu Überforderung.

 

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