Das Rahmenabkommen über die Vermeidung von Verletzungen durch scharfe Gegenstände im Krankenhaus-und Gesundheitswesen, das im Jahr 2009 unterzeichnet und in die Richtlinie 2010/32/EU umgesetzt wurde, ist eines der wichtigsten Ergebnisse des Ausschusses für den sozialen Dialog Krankenhäuser und für den europäischen sozialen Dialog.
Carola Fischbach-Pyttel, Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den öffentlichen Dienst (EGÖD) und Tjitte Alkema, Generalsekretär der Europäischen Arbeitgebervereinigung für Kliniken und Gesundheitswesen (HOSPEEM) gehen in einem Gespräch mit ver.di auf den sozialen Dialog und die Notwendigkeit der Prävention von Nadelstichen ein.
Wie groß ist das Problem, auf das die Vereinbarung abzielt undwarum haben HOSPEEM und EGÖD die Initiative zu Verhandlungen ergriffen?
Tjitte Alkema: Es gibt 12,5 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Krankenhaus -und Gesundheitssektor in der Europäischen Union. Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz schätzt, dass 1 Million Nadelstichverletzungen jährlich in Europa geschehen. Das Europäische Parlament hat deshalb 2006 den Antrag an die Kommission gestellt, im Rahmen eines Gesetzesvorschlages – einer Richtlinie – den Schutz der Mitarbeiter im Gesundheitswesen vor übertragbaren Infektionen durch Nadelstichverletzungen zu verbessern. Nach einer Zwei-Stufen-Beratung und dank eines technischen Seminars mit allen Beteiligten ist HOSPEEM und EGÖD die Reichweite des Problems deutlich geworden. Würde man die Reichweite nur auf Nadelstiche begrenzen anstatt auf alle scharfen medizinischen Gegenstände, wäre im Arbeitsschutz das meiste unverändert geblieben. Aber für HOSPEEM und EGÖD waren viele andere Aspekte von Bedeutung, zum Beispiel die Frage der Beteiligung oder der hinreichenden Gefährdungsanalysen, um das Problem effektiv anzugehen. Der Verdienst ist nun, dass dank der Initiative der Sozialpartner und der Einbeziehung von Experten, Kommission und Parlament das Problem Nadelstichverletzungen in einen breiteren Kontext gestellt werden konnte.
Wo ist der Mehrwert einer im sozialen Dialog ausgehandelten Vereinbarung und was macht diese Vereinbarung wirksam?
Carola Fischbach-Pyttel: Die Rahmenvereinbarung im Krankenhaus- und Gesundheitssektor, die wir im Jahr 2009 abgeschlossen haben, ist ein sehr gutes Beispiel für Ergebnisse, die Sozialpartner zusammen erreichen können, um Risiken zu identifizieren und die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz und die der Patienten zu verbessern.
Unser sozialer Dialog Krankenhäuser wurde erst 2006 gegründet. Die Verhandlungen über die Prävention von Nadelstichverletzungen haben wir im Jahr 2009 begonnen. Es dauerte weniger als 6 Monate für HOSPEEM und EGÖD, eine umfassende Einigung in einem sehr komplexen Thema zu verhandeln, trotz anfänglich divergierender Meinungen, Skepsis und auch Gegensätzen, intern und zwischen anderen Akteuren.
Der Mehrwert des sozialen Dialoges ist, dass die Sozialpartner eine gezielte, wirksame und zeitnahe Regelung auf den Weg gebracht haben, die nahe an der Realität der Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern ist. Wesentlich ist der gemeinsame Blick von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf die betriebliche Wirklichkeit. Dies konnte aufgrund der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen HOSPEEM und EGÖD erreicht werden. Ein weiterer Gesichtspunkt für das Gelingen der Richtlinie war die Einbindung von Experten und Menschen, die in den Krankenhäusern auf allen Ebenen arbeiten
Tjitte Alkema: Wir waren und sind uns immer auch jetzt noch bewusst, dass die Verletzungsgefahren durch spitze und scharfe Gegenstände nicht vollständig beseitigt werden können. Aber mit unserem Vorschlag, der 2010 zu einer Richtlinie aufgewertet wurde, wollten wir sicherstellen, dass alle geeigneten Verfahren vorhanden sind, um einen Beitrag zur Verringerung der Verletzungsrisiken zu leisten. Wir sind davon überzeugt, dass die kombinierte Anwendung von Risikobeurteilung, Prävention, Information und Beratung, Schutz- und Trainingsverfahren hilft, dieses Ergebnis zu erreichen.
Was haben HOSPEEM und EGÖD bisher getan um sicherzustellen, dass die Richtlinie in den verschiedenen Mitgliedsstaaten auch umgesetzt wird?
Carola Fischbach-Pyttel: Die Frist für die Mitgliedstaaten, die Richtlinie 2010/32/EU in nationales Recht umzusetzen, ist am 13. Mai 2013 abgelaufen. HOSPEEM und EGÖD haben zur Begleitung der Richtlinie mit Unterstützung der Europäischen Kommission ein Projekt durchgeführt. Im Rahmen des Projektes ging es um die Herausforderungen, vor dem die verschiedenen Mitgliedsstaaten stehen, um eine solche Arbeitsschutzrichtlinie umzusetzen. Es ging um die Problemstellungen, um gute Beispiele, aber auch um die Rolle, die die Sozialpartner auf nationaler und sektoraler Ebene übernehmen können. Das heißt, mit diesem Projekt haben wir Informationen über die Umsetzung und Anwendung der Richtlinie auf nationaler Ebene gesammelt, Führung und Steuerungswerkzeuge definiert, mit deren Hilfe eine wirksame Umsetzung in der Branche und in der Gesundheitsversorgung gewährleistet ist.
Wie ist der Stand der Umsetzung der Nadelstich-Richtlinie in nationales Recht?
Tjitte Alkema: Was die nationale Umsetzung betrifft, sieht die Lage insgesamt nicht schlecht aus. Ende September 2013 hatten 21 EU-Länder die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen. In den restlichen Nationalstaaten wurden keine Änderungen an bestehenden Rechtsvorschriften als notwendig erachtet. Als ein sehr positiver Aspekt kann festgehalten werden, dass auch national die Sozialpartner an dem Umsetzungsprozess beteiligt wurden und mehrere unserer Mitglieder berichteten, dass sie mehr beteiligt wurden als dies sonst der Fall gewesen ist. Sie wurden als die Autoren, die „Erfinder und Erfinderinnen“ der Rahmenvereinbarung durch die gesetzgebenden Instanzen angesprochen.
Und was sind die wichtigsten Erkenntnisse für die Umsetzung am Arbeitsplatz?
Carola Fischbach-Pyttel: Wirklich wichtig ist für den Erfolg unserer Rahmenvereinbarung, wie sie die Realität in den Krankenhäusern und in einigen Nationalstaaten auch weitergehend in den Einrichtungen des Gesundheitswesens bereits verändert hat und künftig noch verändern wird. Das Projekt hat gezeigt, dass dank des Bottom-up-Ansatzes, der den gesamten Prozess charakterisiert, die Bestimmungen, die von HOSPEEM und EGÖD ausgehandelt wurden, in mehreren Mitgliedstaaten bereits auf der Ebene des Arbeitsplatzes angekommen ist. HOSPEEM und EGÖD sind sich bewusst, dass die Arbeit der Sozialpartner für die Umsetzung in den Betrieben und an allen Arbeitsplätzen gerade erst begonnen hat. Gerade hier ist ein kontinuierliches Engagement von beiden Seiten entscheidend, um die Richtlinie und ihre Ziele mit Leben zu erfüllen. Für uns ist es auch wichtig, dass organisatorische und personalwirtschaftliche Veränderungen in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens ausgelöst und institutionalisiert werden. Dies bedeutet eine enge Zusammenarbeit für die Vertreter oder Ausschüsse für Gesundheit und Sicherheit mit Verantwortlichen der verschiedenen Abteilungen, wenn es beispielsweise um die Risikobewertung der Abfallentsorgung auf einer Station oder die Beschaffung von medizinischen Geräten, Systemen der Berichterstattung oder die hierfür notwendigen Einweisungen geht.
Was können HOSPEEM und EGÖD auf den Weg bringen, um die Richtlinie schneller im Betrieb zu verankern?
Tjitte Alkema: Das Projekt, das wir gerade abgeschlossen haben, hat uns in dieser Hinsicht sehr geholfen. Dank der vier Konferenzen, die wir in ganz Europa organisiert haben, konnten wir von den Fach -und Führungskräften sowie den Experten aus den verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten ein genaues Bild über die Umsetzung der Richtlinie am Arbeitsplatz erhalten. Wir haben erfahren, welche praktischen Maßnahmen funktionieren, die zugleich kostengünstig und replizierbar sind. Zur gleichen Zeit war es in der Tat sehr hilfreich, die Herausforderungen der Umsetzung zu verstehen und herauszufinden, wie ihnen zu begegnen ist. Dieser Austausch ist für unsere beiden Organisationen nützlich. Indem wir unsere gemeinsamen Interessen deutlich machen, werden wir auf der europäischen Ebene besser wahrgenommen.
Sowohl HOSPEEM als auch EGÖD sind sich einig, dass einer der Schwerpunkte des neuen Arbeitsprogramms des sozialen Dialogs Krankenhäuser die weitere Begleitung der Nadelstichrichtlinie sein muss. Dies wird es uns ermöglichen, die Umsetzung und Auswirkungen der Richtlinie 2010/32/EU in den Betrieben zu verfolgen und mehr über die Verbesserungen und Herausforderungen zu erfahren, die wir dadurch anstoßen konnten. Über die erzielten Fortschritte und offenen Fragen wird zudem jedes Jahr in den nächsten vier Jahren berichtet, also bis die Kommission, den Erfolg der Richtlinie selbst überprüft.
Was erzählt uns diese „Erfolgsgeschichte“ vom europäischen sozialen Dialog?
Carola Fischbach-Pyttel: Die Nadelstich-Richtlinie zeigt deutlich, wie die EU im sozialen Dialog Ergebnisse liefern kann, die erhebliche Auswirkungen nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler Ebene haben. In Zeiten, in denen der soziale Dialog in vielen Teilen Europas in Frage gestellt wird, glauben wir, dass diese „Erfolgsgeschichte“ eindeutig die Glaubwürdigkeit und Legitimität der Sozialpartner bestätigt. Unsere Erfolgsstory zeigt, dass wir zusammen tragfähige Lösungen erzielen können, um die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Gesundheitswesen und der Patienten in einer wirksamen und kosteneffizienten Weise zu schützen. Die Erfahrung sagt uns auch, dass die Arbeit in Partnerschaft und das Engagement der Sozialpartner, den Arbeitsplatz und das Arbeitsleben zu gestalten absolut grundlegend sind für die weitere Entwicklung des europäischen Sozialmodells. Der EGÖD arbeitet auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Richtlinie hin, beispielsweise auf die Branchen der Altenpflege, Sozialarbeit, Strafvollzug und Abfallwirtschaft.
Europäische Gesundheitspolitik, Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Live-In-Betreuung
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