Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) sind ein drängendes Problem im Arbeitsschutz. Fast ein Viertel der Arbeitsunfähigkeits-Tage und fast ein Fünftel der gesundheitlich begründeten Frühberentungen waren in den vergangenen Jahren auf diese Diagnosegruppe zurückzuführen. Dazu ein Gespräch mit Albert Nienhaus, Leiter des Fachbereichs Gesundheitsschutz der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und Professor für Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen am Universitätsklinikum Eppendorf.
Wie entwickelt sich derzeit die Berufskrankheit MSE?
Insgesamt bewegen sich die Fälle in diesem Bereich leider auf einem stabil hohen Niveau. Und nur ein Bruchteil der gemeldeten Fälle wird als Berufskrankheit anerkannt und behandelt. Dabei ist die Anerkennungsquote bei der BGW mit rund zehn Prozent noch deutlich höher als bei anderen Berufsgenossenschaften. Dort bewegt sich die Quote bei lediglich ein, zwei Prozent.
Warum ist die Anerkennungsquote so gering?
Das liegt zum Teil an den Gutachtern. Die Orthopädie in Deutschland hat traditionell nur wenig Ursachenforschung betrieben. Daher rührt das Dogma innerhalb der Fachrichtung und also auch bei den entsprechenden Gutachtern, Muskel-Skelett-Erkrankungen seien schicksalshaft. Und diese Haltung unter Medizinern trifft auf das Interesse bestimmter Berufsgenossenschaften, diese Berufskrankheiten nicht als solche anzuerkennen. Beides zusammen führt zu einer kritischen Situation für die erkrankten Arbeitnehmer/innen. Offensichtlich gelingt es den Versichertenvertretern in den Renten- und Widerspruchsausschüssen nicht, dieser Situation entgegen zu wirken. Bei der BGW hat es hier in den letzten Jahren aber eine sehr positive Entwicklung gegeben. Die Mitglieder der Selbstverwaltung, die in diesen Ausschüssen sitzen, werden regelmäßig geschult und es ist mittlerweile eine Kultur entstanden, bei der es normal ist, dass in den Sitzungen kritisch nachgefragt wird und vorgesehene Entscheidungen revidiert werden. Aufgrund dieser kritischen Nachfragen werden nun bestimmte Gutachter erst gar nicht mehr vorgeschlagen, da ihre Sichtweise nicht derjenigen der BGW im Allgemeinen und der Selbstverwaltung im Besonderen entspricht. Das hat zu einem Anstieg der Anerkennungen von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit geführt.
Zu den durch MSE besonders gefährdeten Arbeitnehmer/innen gehören nach Angaben der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz auch Beschäftigte in der Pflege. Gibt es Daten und Entwicklungen, wie sich dieses Krankheitsbild speziell in den Krankenhäusern oder in den Pflegeberufen niederschlägt?
Der Anzahl der gemeldeten bandscheibenbedingten Erkrankungen sind bei der BGW gestiegen. Nicht, dass die Belastungen zugenommen hätten. Aber die BGW macht inzwischen mehr Hilfsangebote, das steigert die Sensibilität für das Thema und entsprechend steigen die gemeldeten Fälle.
Was sind die zentralen Einflussfaktoren, die MSE begünstigen?
Bei Pflegekräften steht das Bewegen, der Transfer von Patient/innen eindeutig im Vordergrund. Dies führt dazu, dass – für kurze Zeit – sehr hohe Gewichte in ungünstiger Körperstellung bewegt werden müssen. Die Druckbelastung für die Bandscheiben erreicht dann ein kritisches Belastungsniveau. Eine Situation, die sich nur bedingt regulieren lässt. Bei einem Zementsack können Sie bestimmen, dass er nicht schwerer als 25 Kilogramm sein darf. Bei einem Patienten geht das nicht. Also können Sie die Situation nur durch ausreichendes Personal und ergonomische Hilfsmittel entschärfen – wie etwa einem zweiten Kollegen als Hilfe und ein hochfahrbares Bett.
Was bringt das?
Viel. Wenn man auf ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes achtet, und die Betten beim Transfer oder der Arbeit am Bett dann auch tatsächlich hochstellt, lassen sich die Belastungen bei ungünstigen Haltungen um 50 Prozent reduzieren. Dies belegt eine Studie aus der Altenpflege. Auch die Druckbelastung der Bandscheiben lässt sich durch ergonomischen Patiententransfer deutlich verringern wie Laborstudien am Institut für Arbeitswissenschaften in Dortmund gezeigt haben.
Welche Rolle spielt bei den MSE die zunehmende Arbeitsintensität und zu wenig Personal auf den Stationen? ver.di geht von immerhin 70.000 fehlenden Stellen allein in der Pflege in deutschen Krankenhäusern aus.
Das bedingt sich auf jeden Fall. Wenn nicht genug Personal zur Verfügung steht, kann man die Patiententransfers nicht zu zweit machen. Zudem stehen die Beschäftigten unter Zeitruck, das gibt ihnen das Gefühl, den Transfer oder die anstehende Arbeit am Bett schnell und „unkompliziert“ erledigen zu müssen. Die Zeit, sich einen zweiten Kollegen dazuzuholen oder das Bett hochzufahren, nimmt man sich dann einfach nicht. Aus ergonomischer Sicht ist das fatal. Durch den arbeitsbedingten Stress nehmen auch psychische Belastungen zu, diese wiederum erhöhen den Muskeltonus und verstärken die Wirkung der physikalischen Belastungen – ein angespannter Rücken schmerzt schneller.
Was ist aus Ihrer Sicht der zentrale Drehpunkt für Prävention, wer muss dabei welche Aufgabe und Rolle übernehmen?
In der Pflege sind ergonomische Hilfsmittel und ausreichendes Personal auf den Stationen sowie ein gutes Arbeitsklima zentral. Es geht unbedingt darum, Patiententransfers allein und ohne Hilfsmittel zu vermeiden!
Welche Rolle spielt hierbei die BGW?
Die BGW kommt auf zwei Ebenen ins Spiel. Zum einen kann sie den Arbeitsplatz analysieren und den Arbeitgeber beraten, wie Belastungsspitzen abgebaut werden können. Und zum anderen berät die BGW den einzelnen Arbeitnehmer. Pflegekräfte mit Rückenbeschwerden erhalten über die BGW etwa eine dreiwöchige stationäre Behandlung, inklusive Schmerztherapie, das Steigern der persönlichen Fitness und das Erlernen rückengerechter Pflege. Oft kann man damit schon vermeiden, dass die Beschwerden chronisch werden.
Prävention muss also auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Aber setzt eine systematische Prävention nicht so etwas wie einen betrieblichen Kulturwandel voraus?
Das sehe ich auch so. Prävention funktioniert nicht mit einer Einzelmaßnahme, nur die Summe führt zum Erfolg. Die Einstellung aber, dass mein Mitarbeiter die wichtigste Ressource in meinem Unternehmen ist, bedeutet eine andere Kultur im Umgang mit dem Mitarbeiter – wie ich ihn einsetze und wie ich ihn wertschätze. Da besteht hierzulande noch Nachholbedarf.
Das Gespräch führte Uta von Schrenk
Weitere Informationen: zum GDA Arbeitsprogramm MSE unter www.gdabewegt.de
Auf Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) entfielen im Jahr 2010 rund 95,4 Millionen und damit über 23,3 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage. Etwa die Hälfte davon ist auf Rückenbeschwerden und -erkrankungen zurückzuführen.
Die mittlere Dauer der Arbeitsunfähigkeit lag bei 18,0 Tagen (Männer) bzw. 18,9 Tagen (Frauen).
Mehr als 26.000 Menschen schieden 2010 wegen MSE-bedingter verminderter Erwerbsfähigkeit vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus. Dies sind ca. 14,7 Prozent der gesundheitlich begründeten Frühberentungen; MSE stehen damit an zweiter Stelle der Diagnosegruppen.
Muskel-Skelett-Erkrankungen verursachen nach den Erkrankungen des Verdauungssystems die zweithöchsten direkten Kosten – überwiegend Kosten für die Behandlung – in der Gruppe der 15- bis 65-Jährigen in Deutschland.
MSE-bedingte Arbeitsunfähigkeiten verursachen im Vergleich mit anderen Diagnosegruppen die höchsten indirekten Kosten – 9,1 Milliarden Euro Produktivitätsausfall und 16,0 Milliarden Euro Ausfall an Bruttowertschöpfung.
Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
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