Nicole Meyer kann es noch gar nicht glauben. Nach jahrelangem Kampf mit ihrem Arbeitgeber hat dieser nun von weiteren arbeitsrechtlichen Schritten gegen sie abgesehen. Meyer ist Pflegekraft, Betriebsratsvorsitzende eines Pflegeheimes in Bremen, Gesamtbetriebsratsvorsitzende und Vorsitzende des Europäischen Betriebsrates des Mutterkonzerns Orpea, einem der europaweit größten Pflegeheimbetreiber, der seinen Sitz nahe Paris hat.
Grund für die Umkehr ist offenbar der Druck der Kolleg*innen französischer Gewerkschaften, insbesondere der CGT, die der Orpea-Gruppe solange das Gespräch und damit den Sozialen Dialog verweigerte, bis die Sache vollständig geklärt war. Das zeigt einmal mehr: Der Zusammenhalt der Gewerkschaften wirkt, auch über Grenzen hinweg.
Was war passiert? Die französische Orpea-Gruppe, zu der die Senioren Wohnpark Weser GmbH in Bremen gehört, ist jahrelang systematisch gegen Betriebsrät*innen und Gewerkschaft*terinnen vorgegangen, Union Busting, heißt der Fachbegriff im Englischen. Die Angriffe zielten in Deutschland auf Nicole Meyer als Betriebsratsvorsitzende und gegen sie persönlich. Die Liste der angestrebten Verfahren der Senioren Wohnpark Weser GmbH ist lang, so hatte sie unter anderem die Wahl zum Betriebsrat in Bremen 2021 angefochten, den Betriebsbegriff an sich in Zweifel gezogen und gegen eine Betriebsvereinbarung zur Gefährdungsbeurteilung geklagt.
Das Management ging jedoch auch persönlich gegen Nicole Meyer vor. Es hatte sie und eine Kollegin als Betriebsrätinnen immer wieder unter Druck gesetzt, ihnen gedroht und versucht, sie zu kündigen. Ständig habe sie Stellungnahmen abgeben müssen, auch im Urlaub, Arbeitszeitbetrug stand im Raum, auf einmal kam eine Änderungskündigung hinzu, berichtet sie. Meyer sei keine Mitarbeiterin der Seniorengruppe hieß es da seitens der Senioren Wohnpark Weser GmbH plötzlich. Die Arbeitsgerichte hatten das Kündigungsbegehren jedoch im März 2022 als unbegründet zurückgewiesen. Stattdessen hat das Landesarbeitsgericht das Unternehmen wegen Mobbings der Betriebsratsvorsitzenden zu 15.000 Euro Schadensersatz verurteilt. Eine Entscheidung, die der Arbeitgeber nicht anerkennen wollte und es nun doch überraschend getan hat.
Zusätzlich hat die Senioren Wohnpark Weser GmbH das Gehalt von Nicole Meyer in Teilen einbehalten und jetzt endlich nachgezahlt. Schließlich lag sogar eine Strafanzeige gegen die ver.di-Kollegin vor, die die Staatsanwaltschaft bereits wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt hatte – der Arbeitgeber hat nun auch in diesem Fall zugesichert, die Sache ruhen zu lassen. „Sämtliche Verfahren gegen mich und meine Kollegin wurden zurückgenommen“, ist Meyer erleichtert.
Solidarität muss für alle Gewerkschafter*innen das Rückgrat sein, [...] denn zusammen sind wir stärker.
Zu verdanken hat Meyer das ihrem enormen Durchhaltevermögen über mehrere Jahre und einer lautstarken Befürworterin, einer französischen Kollegin. Françoise Geng von der Fédération Santé Action Sociale der CGT, kurz für Conféderation générale du travail, ist gleichzeitig Vizepräsidentin des europäischen Dachverbandes EGÖD, dem Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst. Sie setzte ein klares Zeichen: Solange der Mutterkonzern Orpea die Angriffe, Strafen und Verfahren gegenüber der deutschen Kollegin nicht einstellt, solange beginnt die französische Gewerkschaft den Sozialen Dialog mit der neu eingesetzten Führung des Konzerns nicht. Die Mitglieder der CGT stellten sich gegen die Ungerechtigkeit der Orpea-Gruppe, waren sie doch selbst vielfach zur Zielscheibe geworden. „Es war für mich daher nur logisch, die komplette und endgültige Aufhebung aller Sanktionen auch gegen Nicole zu fordern“, stellt Geng klar. „Solidarität muss für alle Gewerkschafter*innen das Rückgrat sein, so ist es, denn zusammen sind wir stärker.“
Die Solidarität ging auch über Frankreich hinaus. Kolleg*innen aus Belgien, Italien und Spanien hätten sich bei Nicole Meyer gemeldet und sie bestärkt, erzählt sie. „Das war schon ein großes Zeichen.“ In Frankreich haben man sie gar als Symbolfigur gesehen. „Du stehst für uns für den Widerstand, haben die Kolleg*innen gesagt, das war sehr beeindruckend.“
Du stehst für uns für den Widerstand, haben die Kolleg*innen gesagt, das war sehr beeindruckend.
Die Liste der Angriffe des französischen Orpea-Konzerns ist auch europaweit lang, insbesondere in Frankreich. Wer es dort als Gewerkschafter*in der CGT wagte, Kolleg*innen zu verteidigen oder die schlechten Arbeitsbedingungen anzuprangern, den hatte Orpea oft kurzer Hand entlassen. Kritik an den unwürdigen Zuständen in den Pflegeheimen? Ebenso unerwünscht und abgestraft. Das habe in den vergangenen mehr als zehn Jahren dutzende Mitglieder und CGT-Vertreter*innen betroffen, stellt Geng klar. Doch so wenig wie Orpea nachließ, taten es auch die Gewerkschafter*innen. Flugblätter, Pressemitteilungen, Versammlungen, Streiks, Gerichtsverfahren – mit allen Mitteln setzte sich die CGT gegen die Machenschaften von Orpea ein.
Vor Kurzem wurde die Geschäftsführung der Orpea-Gruppe ausgetauscht. Neues Management, neue, respektvolle Zusammenarbeit? Dass das so einfach wird, das wagen weder Françoise Geng noch Nicole Meyer zu hoffen. Dennoch ist da Zuversicht. Geng berichtet ihrerseits, dass nun endlich erfolgreich Betriebsratswahlen bei Orpea in Frankreich stattgefunden haben. Die CGT lag dabei deutlich vorn. Eine klare Anerkennung der jahrelangen Kämpfe der französischen Gewerkschaftskolleg*innen. Die CGT will sich als Erstes für eine Steigerung der Gehälter einsetzen, mehr als 15 Jahre hat es keine Erhöhung gegeben. Auch um die Personalausstattung werde es in den nächsten Verhandlungen gehen, um das Material, um gut zu pflegen, und den Europäischen Betriebsrat. Bisher hält Orpea hier nur die Mindeststandards ein, wie sie eine europäische Richtlinie vorgibt. Doch als Allererstes müsse sich der Konzern um nicht weniger als Vertrauen bemühen, ist Françoise Geng überzeugt. Vertrauen, „das die Beschäftigen schon vor langer Zeit verloren haben.“
Insgesamt sollten die europäischen Gewerkschaften aus Sicht von Geng gemeinsam Lehren aus dem Orpea-Skandal ziehen und effizient und verstärkt zusammenarbeiten – nicht nur im Krisenfall. Geng fügt hinzu, wie wichtig dafür die Zusammenarbeit mit dem europäischen Dachverband, EGÖD, sei und bleiben müsse. Der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst habe schließlich dafür gesorgt, dass die Menschen den Orpea-Skandal überall in Europa wahrgenommen hätten – und dank der Internationale der Öffentlichen Dienste, IÖD, sogar darüber hinaus.
Nicole Meyer hofft auf einen besseren Austausch zwischen dem Europäischen Betriebsrat und Orpea. Die Kommunikation habe sich verbessert. „Es hakt noch hier und da, aber das müssen beide auch noch lernen“, gesteht sie sich und ihren Kolleg*innen ebenso wie dem neuen, französischen Management zu. Aber die Hoffnung sei da, dass es in den nächsten Jahren einen guten Sozialen Dialog gebe, bei dem man Dinge gemeinsam angehen könne. „Es sieht im Moment so aus, als ob das klappen könnte“, ist Meyer vorsichtig optimistisch. Es werde aber noch etwas Zeit brauchen, wieder Vertrauen aufzubauen, fügt auch sie hinzu.
Der Solidarität der Kolleg*innen aus Europa und insbesondere aus Frankreich kann sich Nicole Meyer dagegen sicher sein. „Ich bin Françoise Geng wirklich sehr, sehr dankbar. Sie war von Anfang an dabei und hat sich zum Beschluss auch persönlich stark für mich eingesetzt.“ Der Zusammenhalt der Gewerkschaftskolleginnen aus Frankreich und Deutschland, er wird bleiben.
Birte Knäpper
Die französische Orpea-Gruppe betreibt mehr als 1000 Pflegeeinrichtungen in Frankreich, Deutschland, weiteren europäischen Ländern sowie etwa in Nord- und Südamerika. Vielfach tragen sie jedoch einen anderen Namen, Celenus-Pflegeheime in Deutschland gehören beispielsweise zu Orpea. Traurige Berühmtheit erlangte der Konzern 2022 mit der Veröffentlichung des Buches „DieTotengräber“ von Viktor Castanet, in dem er die unhaltbaren Zustände in französischen Pflegeheimen und die Angriffe auf Gewerkschafter*innen beschrieb.
Ende 2022 wurde bekannt, dass der Konzern 3,5 Milliarden Euro Schulden angehäuft hat und auf staatliche Hilfe angewiesen ist. Die Caisse des dépôts (CDC), ein staatliches Finanzinstitut in Frankreich, übernimmt nun mit 50,2 Prozent die Mehrheit. Insbesondere die französischen Gewerkschaften und der Dachverband EGÖD hatten sich für eine Beteiligung des französischen Staates stark gemacht. Für sie sind zwei Dinge jetzt besonders wichtig: ein umfangreicher Einstellungsplan von Beschäftigten und keine Dividendenzahlungen an die Aktionäre.
Europäische Gesundheitspolitik, Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Live-In-Betreuung
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