Um die großen Herausforderungen in der Langzeitpflege und der frühkindlichen Bildung zu bewältigen, braucht es eine europaweit abgestimmte Strategie. ver.di und der Europäische Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGöD) meinen das schon lange. Jetzt bewegt sich was: Die Europäische Kommission hat am 8. September eine Pflegestrategie veröffentlicht, die die zentrale Rolle der Beschäftigten hervorhebt und die Arbeitsbedingungen verbessern will. »Ich begrüße die Betonung, dass die Rolle der Beschäftigten aufgewertet werden muss – sowohl in der Langzeitpflege als auch in der frühkindlichen Bildung und Betreuung«, sagte der EGöD-Generalsekretär Jan Willem Goudriaan. »Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sind nötig, um motivierte Beschäftigte zu gewinnen und zu halten und so dem zunehmenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.«
In Bezug auf die Altenpflege ruft die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten unter anderem dazu auf, Tarifverhandlungen zu befördern, um faire Arbeitsbedingungen sicherzustellen. »Es ist gut, dass die EU-Kommission die Stärkung der Tarifbindung als zentrales Ziel formuliert. Hier gibt es auch in Deutschland noch großen Handlungsbedarf«, erklärte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. Sie verwies darauf, dass die seit Anfang September hierzulande geltende Tariflohnpflicht für Pflegeeinrichtungen nicht zu mehr Tarifbindung führe. Sie sei eine Mogelpackung, weil damit keineswegs Tariflöhne gesichert seien. Bisher könne noch niemand sicher sagen, wie das Gesetz vor allem bei kommerziellen Anbietern konkret wirke, von denen so gut wie keine an Tarifverträge gebunden sind.
Goudriaan betonte ebenfalls die schädliche Rolle gewinnorientierter Unternehmen in der Altenpflege. Als Beispiel nannte er den französischen Orpea-Konzern, der immer wieder durch Skandale und Repression gegen gewerkschaftlich aktive Beschäftigte auffällt. Der EGöD-Generalsekretär zeigte sich enttäuscht, dass sich die EU-Kommission zwar für mehr öffentliche Investitionen in die Altenpflege ausspreche, die Vorschläge der Gewerkschaften zur Zurückdrängung gewinnorientierter Anbieter aber nicht aufgegriffen habe. Immerhin solle es mehr Kontrollen und Qualitätsvorgaben geben. »Die angekündigte Kontrolle muss ein ernsthaftes Instrument werden, um Fälle wie Orpea zu verhindern«, forderte Goudriaan. Positiv wertete der Gewerkschafter das Bekenntnis zur Förderung der europäischen Sozialpartnerschaft. Er appellierte an die EU-Kommission, die Etablierung des von EGöD und Arbeitgebern beantragten Sozialen Dialogs nicht länger zu verzögern.
Besondere Erwähnung finden in der EU-Pflegestrategie die sogenannten Live-in-Kräfte, die pflegebedürftige Menschen in ihrem Zuhause betreuen – meist rund um die Uhr und mit völlig unzureichender Bezahlung. Die Kommission fordert eine strenge Überwachung, die die Beschäftigten vor Ausbeutung schützt und ihnen faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen sichert. »Davon sind wir weit entfernt«, kommentierte Bühler. »Alle wissen, dass täglich tausendfach in deutschen Privathaushalten gegen geltendes Recht verstoßen wird, und die politisch Verantwortlichen nehmen es sehenden Auges hin. Das ist weder für die pflegebedürftigen Menschen und ihre Familien noch natürlich für die Kolleginnen ein tragbarer Zustand.«
Erst Anfang September hat das Berlin-Brandenburger Landesarbeitsgericht erneut einer sogenannten 24-Stunden-Kraft aus Bulgarien Recht gegeben, die den gesetzlichen Mindestlohn für ihre gesamte Arbeitszeit eingeklagt hatte. Das Urteil zeige »dringenden Handlungsbedarf«, so Bühler. »Die 24-Stunden-Betreuung muss von der Politik endlich angegangen werden.« So sieht es offenbar auch die Europäische Union.
Wichtig sei, dass den Worten der EU-Kommission rasch Taten folgten, betonte die Gewerkschafterin. »Jetzt braucht es auf Ebene der Nationalstaaten schnelle und verbindliche Aktionspläne zur Verbesserung der Situation in der Altenpflege. Darauf werden ver.di und der EGöD nun pochen.«
veröffentlicht/aktualisiert am 28. September 2022
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