Fast zehn Jahre lang hat Iwanka P. alte Leute in Deutschland gepflegt – doch eine Lohnabrechnung hat die Bulgarin dafür nie bekommen. Über die Jahre hatte sie Verträge mit vier Vermittlungsagenturen. Offiziell traten die als Arbeit- oder Auftraggeber auf. Alle hatten Unternehmensadressen in Polen. Gesehen hat Iwanka keinen ihrer Vertragspartner, alles lief immer online oder übers Telefon. In ihrem letzten Vertrag stand, dass sie weder über dessen Inhalt noch über ihre Lohnhöhe sprechen dürfe – sonst drohten ihr 2000 Euro Strafe.
1250 Euro monatlich hat Iwanka P. zuletzt überwiesen bekommen und damit sogar deutlich mehr als viele Kolleginnen. Allerdings hat Herbert H., dessen Frau schwerstpflegebedürftig war, für die 24-Stunden-Kraft 2300 Euro überwiesen. Er hatte einen Vertrag mit einer deutschen Vermittlungsagentur, die mit Iwanka P.s Auftraggeber kooperierte. Aus der Differenz sollte unter anderem Iwanka P.s Sozialversicherung in Polen bezahlt werden. Doch die 54-Jährige wartet inzwischen über ein Jahr vergeblich auf die 250 Euro, die sie für eine Zahnbehandlung vorstrecken musste. Die Erstattung durch die polnische Krankenkasse läuft über ihren ehemaligen Arbeitgeber - und der schaltet auf Durchzug, seit Iwanka P. gekündigt hat. Dass sie jemals Rentenzahlungen aus Polen erhalten wird, hat sie noch nie geglaubt.
„Wir beobachten, dass sich der Einsatz osteuropäischer Frauen und manchmal auch Männer in deutschen Haushalten mit pflegebedürftigen Menschen immer weiter ausbreitet“, sagt Sylwia Timm, die im Rahmen des DGB-Projekts „Faire Mobilität“ seit sieben Jahren entsprechend Beschäftigte berät. Zuverlässige Zahlen gibt es nicht – Timm geht übers Jahr gerechnet inzwischen von 300.000 bis 500.000 Personen aus; der Verband für häusliche Betreuung und Pflege rechnet mit 400.000. In der Regel arbeiten die sogenannten „Live-Ins“ ohne Zeitlimit und garantierte Freizeit, weil sie mit den Pflegebedürftigen unter einem Dach leben und sich kaum abgrenzen können. Darüber hinaus gelten osteuropäische Frauen als fürsorglich und zugewandt - und auch die burschikose Iwanka P. hat Verständnis für die Lage der Alten und Kranken: „Wenn die Leute wach sind, muss man sich um sie kümmern. Damit habe ich kein Problem. Aber oft hat man auch nachts kaum geschlafen und ist dann morgens total kaputt.“ Viele Verträge, die sie im Laufe der Jahre abgeschlossen hat, garantierten ihr einen komplett freien Tag in der Woche, manchmal war auch eine 40-Stunden-Woche vereinbart. „Doch in echt geht das nicht.“
Schon die Bezeichnung der Arbeitskräfte als 24-Stunden-Pflgekräfte belegt, dass hier etwas mit den geltenden Arbeitszeitvorschriften unvereinbar ist. Doch weder Politik noch Justiz oder Zoll kümmern sich darum. Weil ohne richterlichen Beschluss die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt, muss kein Beteiligter mit staatlichen Kontrollen rechnen – und auf dem Papier erscheinen die Verträge meist gesetzeskonform.
Manche Live-Ins arbeiten nur ein paar Tage in einem Haushalt, die meisten sind zwei bis drei Monate lang im Dauereinsatz und fahren dann, meist völlig erschöpft, in die Heimat, bevor sie zum nächsten Einsatz aufbrechen. Bezahlt werden sie in diesen Phasen nicht.
Meist sind es Frauen zwischen 45 und 65 Jahren, die die anstrengende Arbeit auf sich nehmen. Viele haben Schwierigkeiten, in ihren Herkunftsländern eine Stelle zu finden – und immerhin verspricht der Einsatz in Deutschland einen zwei bis dreimal so hohen Lohn, wie sie daheim an einer Supermarktkasse verdienen könnten. In vielen Fällen basiert das Einkommen ihrer Familien zum Großteil auf ihrem Lohn.
Iwanka P. hat einen dreimonatigen Kurs in Bulgarien besucht, in dem sie ein paar Grundfertigkeiten im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen erlernt hat. Die meisten Frauen bringen dagegen keine professionellen Kenntnisse mit. Obwohl von den Agenturen als 24-Stunden-Pflegekraft bezeichnet, dürfen sie offiziell nur Betreuungs- und Haushaltstätigkeiten übernehmen und keine medizinischen Verrichtungen übernehmen. Tatsächlich aber verabreichen sie Medikamente, lagern die Kranken um und heben sie – und dabei ruinieren sie oft ihre eigene Gesundheit. Immer mal wieder infiziert sich auch eine Hilfskraft, weil sie nicht über die ansteckende Krankheit eines Patienten informiert war.
Einige Live-Ins kommen über Mund-zu-Mund-Propaganda in die Einsatzhaushalte. Viele von ihnen arbeiten schwarz, in Ausnahmefällen schließt der oder die Pflegebedürftige aber auch einen korrekten Arbeitsvertrag ab und meldet die Person bei der deutschen Sozialversicherung an. Ansonsten entsteht die Verbindung über Vermittlungsstellen. Polen ist das zentrale Land für das Anwerben von osteuropäischen 24-Stunden-Kräften. Dort gibt es schätzungsweise 800 Agenturen, die Personal in allen Ländern zwischen Litauen und Rumänien suchen. Die Kommunikation läuft ausschließlich online oder übers Telefon.
Früher traten diese Firmen als Arbeitgeber auf – und obwohl sie ihre Dienste ausschließlich in Deutschland oder Österreich anbieten, erschien es formal so, als ob sie ihr Personal auf befristete Dienstreisen entsandten. Sogenannte A1-Bescheinigungen belegten, dass die Frauen in Polen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren.
„Inzwischen sind Auftragsverträge die Regel geworden,“ fasst Timm ihre Beobachtungen zusammen. Ähnlich wie bei Werkverträgen in der Fleischindustrie sind die als Pflegekräfte deklarierten Frauen in diesem Modell selbständig – und bekommen deshalb im Krankheitsfall keine Lohnfortzahlung. Die Vergütungsbedingungen sind sehr intransparent geregelt, ein Großteil der Überweisungen gelten als Spesen oder Provisionen, so dass die Beiträge zur Sozialversicherung ausgesprochen mickrig ausfallen. Für die Agenturen besteht der Vorteil der neuen Vertragskonstruktion auch darin, dass sie in Polen nicht direkt vor einem Arbeitsgericht verklagt werden können, sondern die 24-Stunden-Kräfte allenfalls zivilgerichtlich gegen sie vorgehen können – und das kostet. „Tatsächlich klagt fast nie jemand. Es fehlt den Frauen an Kraft und Geld“, so Timm. Außerdem beauftragen die Agenturen im Zweifel großen Anwaltskanzleien, um die Beschäftigten einzuschüchtern. Versuche von ver.di, die Frauen über ambulante Pflegedienste oder Flyer zu erreichen und zu organisieren, sind fehlgeschlagen.
In vielen Fällen kooperiert das polnische Unternehmen mit einer deutschen Agentur, die als Vertragspartner für die Kundschaft in Deutschland auftritt. Zwar gibt es dort meist auch muttersprachliche Ansprechpartnerinnen oder -partner, die bei Problemen im Haushalt vermitteln sollen. Doch hilfreich sind sie nach Timms Beobachtung nicht – im Gegenteil. „Diese sogenannten Koordinatorinnen haben das Interesse, dass der Kunde nicht verloren geht.“ Deshalb setzten sie die Frauen in Konfliktfällen unter Druck und suggerierten ihnen, dass sie von der Polizei ausgewiesen werden könnten. In manchen Verträgen ist auch eine hohe Vertragsstrafe vereinbart, wenn eine Live-In einen Haushalt vorzeitig verlässt. Fast täglich melden sich Frauen aus der ganzen Republik bei Timm. Die Juristin hört sich dann erst einmal die Klagen an, prüft die Verträge und stärkt die Live-Ins darin, sich zu wehren, wenn der Schwiegersohn auch noch seine Hemden gebügelt haben will. Auch erledigt sie den einen oder anderen Anruf im Namen der Frauen. Doch wirklich helfen kann sie in vielen Fällen nicht. „Unsere Beratungsstellen setzen bestenfalls bei den Symptomen an, aber nicht bei der Krankheit.“
Dazu gehört auch, dass Altersheime in Deutschland einen schlechten Ruf haben, weil es dort viel zu wenig Personal gibt. Eltern oder Partner so unterzubringen ist für Angehörige oft mit Gewissensbissen verbunden. Deshalb suchen viele Familien nach Lösungen, um ihre Verwandten so lange wie möglich zu Hause zu behalten. Doch der Zeitaufwand ist immens und kaum mit voller Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, wie die HBS-Studie „Pflege in den eigenen vier Wänden“ belegt. Die Zeiten für Betreuung, Körperpflege, Arztbesuche, Ernährung und Haushalt summieren sich bereits für eine Person mit Pflegestufe 1 auf fast 50 Stunden, bei einem Menschen mit höchster Pflegestufe sind es über 83 Stunden. In elf Prozent der befragten Haushalte war eine osteuropäische Hilfskraft im Einsatz. Da die Pflegeversicherung diese Kosten nicht übernimmt, können sich aber nur Wohlhabendere eine solche Lösung leisten.
Margret Steffen von ver.di verlangt, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ändern. Zum einen müsste es für Familien und Pflegebedürftige einfach zu organisieren sein, die Osteuropäerinnen legal anzustellen; eine Erweiterung der bereits existierenden Regelung für 450 Euro-Kräfte könnte ein Weg sein. Sollte es Lohnkostenzuschüsse geben, müssten die an die Arbeitnehmerin gehen, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden. „Außerdem gehören die dubiosen Vermittlungsagenturen auf den Prüfstand,“ fordert Steffen. Sie schlägt eine Registrierung und einen Qualitätscheck vor, so wie es sie in Dänemark und Finnland gibt. Dort benötigen private Betreuer sogar einen staatlichen Auftrag. In Deutschland dagegen findet bisher alles unbeobachtet hinter verschlossenen Türen statt.
Bernhard Emunds, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts in Frankfurt / Main, macht konkrete Vorschläge, wie sich die Beschäftigungsverhältnisse allmählich in Richtung regulärer Bedingungen verschieben lassen. Er fordert, eine gesetzliche Sonderregelung für die Arbeitszeit von 24-Stunden-Kräften zu schaffen, so wie es sie für SOS-Kinderdorfeltern auch gibt. Darüber hinaus plädiert er für einen Zuschuss von beispielsweise 500 Euro durch die gesetzliche Pflegeversicherung, wenn Angehörige eine Live-In in die häusliche Pflege einbinden und einen Arbeitsvertrag mit ihr abschließen. Voraussetzung für die Auszahlung ist, sich von einem Wohlfahrtsverband begleiten zu lassen. Der schaut mindestens einmal im Monat vorbei und kontrolliert sowohl die Qualität der Pflege im Sinne der hilfsbedürftigen Person als auch die Arbeitsbedingungen und -zeiten der 24-Kräfte. Werden Missstände festgestellt und nicht abgestellt, kündigt der Wohlfahrtsverband den Begleitungsvertrag und dann entfällt der Zuschuss durch die Pflegeversicherung. Bereits heute können Angehörige mit CariFair der Caritas oder vij-FairCare der Diakonie Verträge abschließen, bei denen die Osteuropäerinnen in Deutschland sozialversichert und ihre Arbeitszeiten geregelt sind.
Herbert H. hat sich nach dem Tod seiner Frau entschlossen, Iwanka P. als Haushaltshilfe anzustellen. Dafür musste er nicht nur eine Ablösesumme bei ihrer Agentur entrichten, sondern auch einige Winkelzüge mit dem Arbeitsamt vollführen. Iwanka P. will jetzt endlich richtig Deutsch lernen und dann selbst eine Agentur eröffnen. Auch die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen ist ihr Ziel. Doch die Behörden wollen ihr die vergangenen zehn Jahre nicht anrechnen, obwohl sie permanent hier gelebt hat – denn offiziell war sie als 24-Stunden-Kraft ja immer nur auf Dienstreise in Deutschland.
Autorin: Annette Jensen
Der Artikel ist erschienen im Magazin Mitbestimmung, Juni 2018
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
030/6956-1815
dietmar.erdmeier@verdi.de
ver.di Bundesverwaltung