Dr. Margret Steffen ist Gewerkschaftssekretärin. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit Sozial und Gesundheitspolitik. Das macht sie bis heute beim ver.di Bundesvorstand. Zugleich ist sie Vorsitzende des ständigen Komitees für Gesundheit und soziale Dienste des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den öffentlichen Dienst – kurz EGÖD. Und in dieser Funktion setzt sie sich ein für ein soziales Europa, ein Europa, in dem die Menschen mehr mitgestalten und sich dafür engagieren. In einem Interview spricht sie über Chancen aber auch über Rückschläge auf dem Weg zu diesem Ziel.
Ein Zitat des ersten Präsidenten des Europäischen Parlaments, Robert Schumann aus dem Jahr 1963 stellt Margret Steffen ganz bewusst in den Mittelpunkt: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die für die Menschen in Europa eine Solidarität der Tat schaffen.“ In dieser Tradition steht für sie auch Emmanuel Macron, mit der Idee eines europäischen Marsches mit einer stärkeren gesellschaftlichen Beteiligung.
Margret Steffen, welche Bedeutung hat aus deiner Sicht die Sozialpolitik in Europa?
Die Bereiche der Sozial- und Beschäftigungspolitik basieren auf dem Prinzip der Subsidiarität. Das heißt, es gilt die Gestaltungshoheit der Mitgliedsstaaten über ihre sozialen Sicherungssysteme und die EU besitzt nur begrenzte Möglichkeiten der direkten Einflussnahme. Sozial- und Beschäftigungspolitik ist damit immer ein Aushandlungsprozess zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU. Beide Politikbereiche bieten gerade deshalb viele Gestaltungschancen und Einflussmöglichkeiten, die wir als Gewerkschaften sowohl national als auch in Europa nutzen und unsere Interessen an guter Arbeit und sozialer Sicherung formulieren können.
Die Europäische Union hat also gar nicht so viele Kompetenzen?
Die Kompetenzen der Europäischen Union leiten sich aus den verschiedenen Grundlagenverträgen her, zuletzt dem Lissabon Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union 2012, der Aufstellung von Mindeststandards, wie Arbeitnehmerschutzrechte, einzelnen Richtlinien für Arbeitssicherheit und Sozialschutz sowie den Richtlinien, die die Freizügigkeit regeln und regulieren, wie Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Der Lissabon Vertrags gibt Ziele vor in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Da sind die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Sozialschutz, der soziale Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials und die Bekämpfung von Ausgrenzung. Die Zauberformel in Europa, in diesen Politikbereichen heißt: Leitbilder, Integration und Weiterentwicklung.
Du kennst die europäische Gewerkschaftsarbeit. Welche Möglichkeiten siehst du bei der Gestaltung der Sozial- und Beschäftigungspolitik?
Wichtig sind für uns die Möglichkeiten, die uns der Lissabon Vertrag bietet und alle Verordnungen und Richtlinien, die sich mit der Arbeitssicherheit und dem Sozialschutz auseinandersetzen. Ohne z.B. den Europäischen Sozialfonds könnten viele Projekte der Beschäftigungspolitik in Deutschland nicht finanziert werden. Stichworte, die wir alle kennen sind: Veränderung durch Qualifizierung, der Grundsatz des Gender-Mainstreamings, das Thema Nachhaltigkeit, die Konzentration auf bestimmte Problemgruppen und die Digitalisierung. Für uns als Gewerkschaften sind auch zentral die Richtlinien zum Binnenmarkt. Hier hat die EU erhebliche Gestaltungshoheit. Immer wieder wird versucht, die Wettbewerbslogik auch auf Dienstleistungsbereiche wie die Gesundheits- und Sozialdienste auszudehnen, die dem Gemeinwohl zuzuordnen sind. Der Trend zur Öffnung von Gesundheits- und Sozialdiensten für private Anbieter in Deutschland, quasi die Etablierung eines Gesundheitsmarktes, bedeutet zum Beispiel in der Logik des Binnenmarktes, dass diese Dienste marktkonform erbracht werden. Es gelten dann die Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes.
Kannst du Beispiele für Erfolge der Dienstleistungsgewerkschaften nennen?
Ja, bei der Dienstleistungsrichtlinie haben wir eine Ausnahme für Gesundheitsdienste erreicht. Es sind Dienstleistungen im allgemeinen Interesse. Das bedeutet, dass die Gestaltungshoheit über die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen bei den Nationalstaaten verbleibt. Diese entscheiden über Notwendigkeit, Umfang und Qualität. Weiter die Berufsanerkennungsrichtlinie Hier haben wir das deutsche System der Pflegeausbildung als gleichwertig zu anderen europäischen Ausbildungssystemen abgesichert. Pflegekräfte mit einer Ausbildung in Deutschland können deshalb überall in Europa arbeiten. Auch das Vergaberecht mit seiner Anerkennung sozialer Kriterien und der Einhaltung von Kollektivvereinbarungen ist zu nennen. Die in Europa erkämpften Prinzipien sind ziemlich genau in das deutsche Recht übernommen worden. Bei einer Auftragsvergabe können Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten und die Qualität der Arbeit beschrieben werden. Das gilt auch für Unterauftragnehmer.
Wie könnt ihr euch mit den Gewerkschaften in Europa durchsetzen?
Was wir in Europa durchsetzen können ist von mehreren Faktoren abhängig. Zum einen von den politischen Mehrheiten im Parlament, dann den Zugängen zur Kommission und seit der Stärkung des Parlamentes – das haben wir gespürt – zu den Abgeordneten. Lobbyarbeit in Europa folgt aber nicht unbedingt der Parteizugehörigkeit. Das ist in deutschen Parlamenten anders. Dann kommt es auf die eigenen gewerkschaftlichen Positionsbestimmungen an, national und über unsere europäischen Lobbyorganisationen. Das ist nicht immer einfach. Und schließlich müssen Verhandlungen und Einflussnahme bei wichtigen Rechtsakten national und europäisch erfolgen.
Konkret zur europäischen Säule Sozialer Rechte, die im November 2017 in Göteborg beschlossen wurde. Was wird sie bewirken?
Für Kommissionspräsident Junker ist sie der Kompass für eine erneute Angleichung innerhalb des Euro-Raums. Das ist ein großes Ziel überschrieben mit den Themen Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und Inklusion. Unter diesen Überschriften befinden sich zurzeit noch 20 unverbindliche Grundsätze, die wir alle schon kennen. Die Säule sozialer Rechte enthält bisher keine Hinweise auf einklagbarer Rechte oder legislative Vorschläge außer einem Gesetzgebungsvorschlag zur Work-Life-Balance. Wir in den Gewerkschaften halten das für viel heiße Luft. Von einer Stärkung der sozialen Dimension im Binnenmarkt sind wir noch weit entfernt.
Die soziale Säule ist also völlig wertlos?
Nicht ganz. Den Wert der Sozialen Säule sehe ich in der Tatsache, dass aufgeschrieben und zusammengefasst ist, was in Europa zu den verschiedenen Themen möglich ist. Wir sollten anfangen die Soziale Säule Instand zu setzen, mit einer sozialen Fortschrittsklausel zu verbinden. Einen weiteren Wert sehe ich in der Forderung der Beteiligung der gesellschaftlichen Gruppen an der Gestaltung Europas. Deshalb habe ich mich im EGÖD im Bereich Gesundheit dafür eingesetzt, dass wir einzelne Politikfelder, die für das Gesundheitswesen und die sozialen Dienste wichtig sind, aufgreifen. Das sind vor allem der soziale Dialog, der Arbeitsschutz, die Pflege älterer Menschen, Migration und Arbeit in Privathaushalten. Wir müssen Herausforderungen formulieren und Politik in Richtung Parlament und Kommission betreiben. Wie weit wir kommen werden, wird sich zeigen. Das hängt auch von der Einigkeit unter den europäischen Gewerkschaften ab.
Du hast anfangs Robert Schumann zitiert, der für die Menschen in Europa eine Solidarität der Tat vor Augen hatte. Ist die heutige EU noch sein Europa?
Wir sehen, dass ein soziales Europa und ein Europa der Beteiligung, wie es Schumann und Jaques Delors entworfen haben, aktuell kaum mehr stattfindet. Vor dem Hintergrund von: Finanzkrise, Griechenland, Brexit und Populismus, habe ich die Befürchtung, dass Beschäftigungs- und Sozialpolitik und die hier formulierten Anliegen in den Hintergrund treten. Seit der Konferenz von Göteborg sehe ich kaum Fürsprecher, die sich für die Umsetzung der Säule Sozialer Rechte einsetzen.
Wo müssten wir uns in Zukunft noch mehr engagieren?
Die Themen liegen auf dem Tisch: Sicherheit, Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit und faire Arbeitsbedingungen. Im anstehenden EU-Wahlkampf sollten wir den beschäftigungs- und sozialpolitischen Beitrag Europas stärken, die Soziale Säule ernst nehmen und mit Forderungen untermauern, die tatsächlich die soziale Zusammenführung der Mitgliedsstaaten unterstützen. Das gilt für die alten und insbesondere auch für die neuen Mitgliedsstaaten. Die Idee des europäischen Marsches und den Versuch einer stärkeren Beteiligung von Bevölkerung und gesellschaftlichen Gruppen, wie das Macron entwickelt hat, finde ich faszinierend. Das sollten wir uns hier in Deutschland auch zum Vorbild nehmen.
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