Jan Willem Goudriaan im Gespräch über die Bedeutung von Europa, die Notwendigkeit starker Gewerkschaften sowie das Anti-Soziale der Rechten.
Anfang Juni 2024 ist Europawahl. Warum sollen Gewerkschafter*innen unbedingt wählen gehen?
Wir müssen Europa im gewerkschaftlichen Sinne stärken, weil es großen Einfluss auf unser Leben und unsere Arbeitsbedingungen als Beschäftigte hat. Wenn wir auf europäischer Ebene keine Stimme haben, niemanden, der*die für die Interessen der Arbeitnehmer*innen spricht, dann wird sich das in den Gesetzen und Verordnungen widerspiegeln. Nehmen wir als Beispiel die Mindestlohnrichtlinie: Durch unser Engagement und das unserer Partner*innen im Europaparlament konnten wir die Richtlinie deutlich verbessern. Erstmals werden nun auf europäischer Ebene Kriterien für angemessene Mindestlöhne festgeschrieben. Zudem sind die Mitgliedsstaaten dazu angehalten, die Tarifbindung auf mindestens 80 Prozent anzuheben. Das sind wichtige Regelungen, vor allem auch für Deutschland, wo die Tarifpolitik in den letzten Jahren ziemlich unter Druck geraten ist. Übrigens: Die rechtsextremen Parteien im Europaparlament, für Deutschland ist das die AfD, haben gegen die Mindestlohnrichtlinie gestimmt – wie auch gegen viele andere soziale Gesetze.
Viele Menschen denken, Europa sei weit weg und nicht wichtig für ihr alltägliches Leben...
Das ist ein Irrtum. Hier werden viele Entscheidungen getroffen, die sich direkt auf die Situation vor Ort auswirken. Damit zum Beispiel die Herausforderungen des Klimawandels gerecht angegangen werden können, müssen auch die sozialen Bedingungen auf der Agenda stehen und die entsprechenden finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Dafür braucht es starke Gewerkschaften und gute politische Partner*innen. Während der Corona-Pandemie ist es uns gelungen, ein Unterstützungsprogramm zum Schutz von Beschäftigten und zur Sicherung von Arbeitsplätzen durchzusetzen. SURE – so hieß das Instrument – ermöglichte vergünstigte Darlehen von insgesamt bis zu 100 Milliarden Euro an die Mitgliedsstaaten. Damit konnten Maßnahmen wie Kurzarbeitsregelungen oder Selbstständigenhilfen finanziert werden. Was unzähligen Menschen Einkommen und Job gesichert hat. Das war einer der größten Erfolge für uns Gewerkschaften. Ich würde also sagen, für die Menschen ist es sehr wichtig, was in Europa passiert.
Sind auch Arbeits- und Gesundheitsschutz Themen auf europäischer Ebene?
Unbedingt! Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sind ein Muss für die Arbeitnehmerschaft. Deshalb machen wir uns immer wieder für bessere Arbeitsschutzregelungen stark. Zum Beispiel brauchen wir eine Richtlinie zu psychosozialen Risiken, die die Bedeutung einer guten Personalbemessung anerkennt, sowie verbindliche Maßnahmen gegen zunehmende arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken festschreibt. Das ist für uns eine zentrale Forderung, die wir auf europäischer Ebene umgesetzt sehen wollen. Grundsätzlich war die Verabschiedung der European Pillar of Social Rights, der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR), ein Erfolg der Gewerkschaftsbewegung. Darin bekennen die Mitgliedsstaaten sich dazu, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Europa zu sichern und zu verbessern. Das Recht aller Menschen auf Gesundheit ist in der ESSR verankert.
Sie definiert, welche Maßnahmen durch Arbeitnehmer*innen (und Beschäftigte) zu ergreifen sind, um die Gesundheit bei der Arbeit zu schützen und zu verbessern. Verschiedene Einzelrichtlinien ergänzen sie. In der Corona-Pandemie zeigte sich die Bedeutung der Richtlinie für den Arbeitsalltag: Aus ihr wurden Arbeitsschutzstandards für die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen abgeleitet – Stichwort persönliche Schutzausrüstung.
Wo siehst du die größten Herausforderungen im Gesundheits- und Sozialsektor?
Erstens und vor allem in der Abwehr einer weiteren Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Die Menschen fordern zu Recht ein öffentliches und nicht profitorientiertes Gesundheits- und Sozialwesen. Nur so kann das Recht auf Gesundheit für alle verwirklicht werden. Dann das Thema gerechte Personalbemessung – das ist ein großes Problem in ganz Europa. Es steht jetzt auf der Tagesordnung und wird in den nächsten sechs Monaten im Ministerrat diskutiert. Nicht zuletzt brauchen wir auf europäischer Ebene starke Stimmen gegen eine erneute und verschärfte Sparpolitik. Die letzten zehn Jahre zeigen, welche tiefgreifenden Folgen die Sparpolitik für das Gesundheitswesen hatte. Wir haben hart daran gearbeitet, Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Einer unserer größten Erfolge war die Verabschiedung der Europäischen Strategie für Pflege und Betreuung. Dabei geht es darum, Pflege für alle Menschen in der EU einfach und in hoher Qualität zugänglich zu machen. Um das zu erreichen, müssen sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Pflegekräfte deutlich verbessern. Deshalb ist eines der zentralen Ziele die deutliche Stärkung der Tarifbindung in der Langzeitpflege. Bis 2025 müssen die Mitgliedsstaaten hier Ergebnisse vorweisen können.
Das ist ein Verfahren, mithilfe dessen festgestellt wird, wie viele Beschäftigte an welchen Stellen zu welchen Zeiten mit welchen Kompetenzen notwendig sind, um alle Arbeiten optimal erfüllen zu können. Unser Ziel dabei sind gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und gute Leistungen für Klient*innen, Patient*innen etc.
Welche Gefahr geht von rechten Parteien aus?
Wir lehnen Hass und Rassismus ab. Wir leben und arbeiten nicht nur in Deutschland, den Niederlanden oder Belgien. Wir haben miteinander zu tun, wir sind eine europäische Gemeinschaft. Hinter der Rhetorik der extremen und populistischen Rechten verbirgt sich eine Politik der Profite für wenige. Sie wollen die neoliberale Politik fortsetzen – nur in noch schärferer Form. Immer, wenn es um soziale Maßnahmen geht, stimmen sie dagegen. Verbesserungen im Arbeitsschutz? Verbesserungen in der Tarifpolitik? Verbesserungen der Situation von Menschen aus der LGBTIQ+ Community? Sie sind dagegen. Sie sind gegen Migration und wollen die Grenzen dicht machen. Aber das macht doch die Situation von Arbeitnehmer*innen nicht besser. Es geht auch um Menschenrechte. Die Einführung der Europäischen Menschenrechtskonvention war auch ein Erfolg der Gewerkschaftsbewegung. Die Rechtspopulisten, also die AfD in Deutschland, die PVV in den Niederlanden, der Rassemblement National in Frankreich, sie alle wollen aus dem Menschenrechtsvertrag aussteigen. Warum? Weil sie sonst bestimmte Maßnahmen nicht durchsetzen können. Sie würden gegen geltende Menschenrechte verstoßen. Der Schutz der Menschenrechte ist wichtig für uns – für uns als Bürger*innen, für uns als Männer, Frauen und Diverse, für uns als Gewerkschafter*innen. Es geht um unser aller Freiheit und Rechte.
Die AfD will die Europäische Union auflösen, die Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit innerhalb Europas einschränken und den Euro abschaffen. All das hätte fatale Folgen für die Beschäftigten, denn jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland ist vom Außenhandel abhängig. Auch die Weigerung der Partei, den Klimawandel ernst zu nehmen, ist höchst problematisch. Der Verzicht auf Klimaschutzmaßnahmen würde uns allen massiv schaden. Denn erneuerbare Energien sind nicht nur besser für Menschen, Tiere und Umwelt, sie sind zudem auch ökonomisch nachhaltiger, sprich preisgünstiger. Ein klimapolitisches „Augen-Zu“ und „Weiter-So“ hingegen hätte unglaublich viel Leid und Elend zur Folge. Und mögliche zusätzlich Kosten in Höhe von 300 bis 900 Milliarden Euro innerhalb der nächsten 25 Jahre – aufgrund von extremwetterbedingten Engpässen, Ausfällen und Schäden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung im Auftrag der Bundesministerien für Umwelt sowie Wirtschaft und Klimaschutz. Zudem: Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) fordert von allen Parteien im Bundestag die AfD die größten Einschnitte bei den Sozialleistungen. Keine andere Partei will mehr Macht des Marktes und weniger Regulierung durch den Staat. Und die steuerpolitischen Positionen der AfD unterstützen vor allem Besserverdienende – am meisten diejenigen mit einem Jahreseinkommen von über 300.000 Euro. Alles in allem, so das DIW, läuft die Politik der AfD den Interessen ihrer eigenen Wählerschaft am stärksten zuwider. Denn die ist mehrheitlich prekär beschäftigt und wohnhaft in strukturschwachen Regionen.
Europäische Gesundheitspolitik, Rehabilitation
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